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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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keine größere Freude machen können als an dem Tag, an dem der Lehrer einzog und mein Sohn das obere Gemach verließ. Ich weinte, doch gleichzeitig war das einer der stolzesten Augenblicke meines Lebens. Insgeheim hatte ich die Hoffnung, dass er eines Tages die kaiserliche Prüfung ablegen würde. Ich war nur eine Frau, aber sogar ich wusste, dass die Prüfungen selbst für die ärmsten Gelehrten aus den ärmlichsten Verhältnissen ein Sprungbrett zu einem besseren Leben darstellten. Dennoch hinterließ seine Abwesenheit im oberen Gemach eine dunkle Leere in mir, die nicht durch die lustigen Possen meines zweiten Sohnes, das Gekreische der Konkubinen, das Gezänk meiner Schwägerinnen, ja nicht einmal durch meine gelegentlichen Besuche bei Schneerose ausgefüllt werden konnte. Glücklicherweise stellte ich im ersten Monat des neuen Mondjahrs fest, dass ich wieder schwanger war.
    Mittlerweile war es im oberen Gemach sehr voll geworden. Dritte Schwägerin war eingezogen und hatte eine Tochter geboren. Ihr folgte Vierte Schwägerin, deren ständige Klagen allen
auf die Nerven gingen. Auch sie bekam eine Tochter. Zu Vierter Schwägerin, die später noch zwei Söhne bei der Geburt verlor, war meine Schwiegermutter besonders grausam. Man kann durchaus sagen, dass die anderen Frauen in unserem Haushalt die Neuigkeit voller Neid aufnahmen. Nichts verursachte mehr Bestürzung im oberen Gemach als das Einsetzen der Monatsblutung bei einer der Ehefrauen. Alle wussten es; alle sprachen darüber. Dame Lu nahm stets Notiz davon und verfluchte die jeweilige junge Frau laut, so dass es alle hören könnten. »Eine Frau, die keinen Sohn bekommt, kann jederzeit ersetzt werden«, sagte sie dann zum Beispiel, obwohl sie die Konkubinen ihres Mannes im Grunde ihres Herzens hasste. Wenn ich mich im Frauengemach umblickte, sah ich Eifersucht und schwelenden Groll, aber was blieb den anderen Frauen übrig, als abzuwarten, ob wieder ein Sohn aus meinem Körper herauskam? Ich jedoch empfand anders. Ich wollte eine Tochter, und zwar aus ganz praktischen Gründen. Mein zweiter Sohn würde mich bald verlassen und in die Welt der Männer eintreten, während Töchter ihre Mütter erst verließen, wenn sie wegheirateten. Mein heimlicher Wunsch entflammte neu, als die Nachricht kam, dass Schneerose ebenfalls guter Hoffnung war. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich mir wünschte, dass auch sie eine Tochter bekam.
    Unsere erste und beste Gelegenheit zu einem Treffen und zum Austausch unserer Hoffnungen und Erwartungen kam mit dem Fest der Kostproben am sechsten Tag des sechsten Monats. Ich wohnte mittlerweile fünf Jahre bei den Lus, aber meine Schwiegermutter hatte ihre Einstellung gegenüber Schneerose nicht geändert. Ich hatte den Verdacht, dass sie von unseren Briefen wusste und auch davon, dass wir uns bei den Festen trafen. Aber solange ich die Beziehung nicht öffentlich machte und meine Pflichten im Haushalt nicht vernachlässigte, ließ meine Schwiegermutter das Thema auf sich beruhen.

    Wie immer fanden Schneerose und ich unsere größte Freude im oberen Gemach meines Elternhauses, doch wir konnten uns nicht so vertraut geben wie früher, da wir nun unsere Kinder bei uns im Bett oder in Kinderbetten daneben liegen hatten. Aber wir unterhielten uns noch flüsternd. Ich gestand ihr, dass ich mich nach einer Tochter sehnte, die mir Gesellschaft leisten würde. Schneerose strich sich mit der Hand über den Bauch und erinnerte mich leise daran, dass Mädchen wertlose Äste seien, die die Linie ihrer Väter nicht fortführen könnten.
    »Für uns sind sie aber ganz und gar nicht unnütz«, sagte ich. »Könnten wir nicht jetzt schon einen laotong -Bund für die beiden schließen – noch vor ihrer Geburt?«
    »Lilie, wir sind eben wertlos.« Schneerose setzte sich auf. Im Mondlicht sah ich ihr Gesicht. »Du weißt das doch, oder?«
    »Frauen sind die Mütter von Söhnen«, korrigierte ich sie. Das hatte mir meinen Platz im Haus meines Mannes gesichert. Schneeroses Söhne hatten ihr doch sicherlich auch ihren Platz gesichert.
    »Ich weiß. Die Mütter von Söhnen … Aber …«
    »Und sie werden uns Gesellschaft leisten...«
    »Ich habe schon zwei verloren …«
    »Schneerose, willst du nicht, dass unsere Töchter Weggefährtinnen werden?« Die Vorstellung, sie könnte etwas dagegen haben, war für mich unerträglich.
    Sie sah mich traurig lächelnd an. »Natürlich, falls wir wirklich Töchter bekommen. Sie könnten unsere Liebe zueinander

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