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Seidenfächer

Titel: Seidenfächer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L See
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denn wer würde eine Lüge erzählen, die schlimmer war als die Wahrheit? Was konnte schändlicher sein, als einen unreinen Akt zu vollziehen?
    »Das ist schlecht«, flüsterte ich zurück. »Du musst die Regeln befolgen.«
    »Wieso? Werde ich sonst so unrein wie mein Mann?«
    Dieser Gedanke war mir bereits gekommen, aber ich sagte: »Ich möchte nicht, dass du krank wirst oder stirbst.«
    Sie lachte in die Dunkelheit hinein. »Niemand wird krank vom Liebesspiel. Das macht doch nur Spaß. Ich arbeite den ganzen Tag hart für meine Schwiegermutter. Verdiene ich da nicht die Freuden der Nacht? Und wenn ich noch einen Sohn bekomme, dann bin ich noch glücklicher.«
    Ich wusste, dass dieser letzte Teil stimmte. Das Kind, das da zwischen uns schlief, war nicht nur schwierig, sondern auch schwach. Schneerose musste noch einen Sohn bekommen … für alle Fälle.
    Unsere drei Tage waren nur zu bald vorüber. Ich fühlte mich erleichtert. Meine Sänfte setzte Schneerose in Jintian ab, dann wurde ich nach Hause gebracht. Niemand hatte meinen Umweg beobachtet, und die Käsch-Münzen, die ich den Trägern zahlte, garantierten mir ihre Verschwiegenheit. Ermutigt durch meinen Erfolg, wusste ich, dass ich Schneerose doch öfter sehen konnte. Es gab viele Festtage während des Jahres, an denen verheiratete Frauen in ihr Elternhaus zurückkehren mussten, und außerdem hatten wir unseren jährlichen Besuch beim Gupotempel. Wir waren vielleicht verheiratete Damen, aber wir waren trotzdem noch Weggefährtinnen, ganz egal, was meine Schwiegermutter sagte.

    Im Laufe des folgenden Jahres schrieben wir uns weiterhin, und unsere Worte flogen über die Felder, frei wie zwei Vögel hoch oben in der Luft. Ihre Klagen ebbten ab, genauso wie meine. Wir waren junge Mütter, und unser Leben war angefüllt mit den täglichen Abenteuern unserer Söhne – erste Zähne, erste Wörter, erste Schritte. Für meine Begriffe waren wir beide zufrieden, als wir uns dem Rhythmus unseres neuen Zuhauses anpassten, lernten, es unseren Schwiegermüttern recht zu machen, und uns mit den Pflichten als Ehefrau arrangierten. Ich gewöhnte mich auch immer mehr daran, Schneerose über meinen Mann und unsere intimen Augenblicke zu schreiben. Nun verstand ich die alte Weisung: »Steigst du ins Bett, sei ein Ehemann; steigst du aus dem Bett, sei ein Gentleman.« Mir war mein Mann lieber, wenn er aus dem Bett stieg. Tagsüber befolgte er die neun Maximen. Er bewahrte einen klaren Kopf, hörte genau zu und gab sich freundlich. Er war bescheiden, loyal, respektvoll und rechtschaffen. War er im Zweifel, fragte er seinen Vater, und bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen er ärgerlich wurde, bemühte er sich, es nicht zu zeigen. Wenn er also abends ins Bett stieg, war ich froh, wenn er es genoss, aber erleichtert, wenn er fertig war. Ich verstand nicht, wovon meine Tante geredet hatte, als ich in meinen Tagen des Haarehochsteckens war, und ich begriff wahrhaftig nicht, wie Schneerose am Liebesspiel so einen Spaß haben konnte. Doch so unwissend ich war, eines wusste ich genau: Man kann die Reinheitsgebote nicht brechen, ohne eine schwere Strafe dafür zu bezahlen.
    Liebe Lilie,
     
    meine Tochter wurde tot geboren. Sie hat mich verlassen, ohne Wurzeln zu schlagen, deshalb wusste sie nichts von den Sorgen des Lebens. Ich hielt ihre Füße in den Händen. Sie werden nie die Schmerzen des Füßebindens ertragen
müssen. Ich habe ihre Augen berührt. Sie werden nie die Traurigkeit kennen, wenn man sein Elternhaus verlässt, die Mutter zum letzten Mal sieht, einem toten Kind Lebewohl sagt. Ich habe die Finger auf ihr Herz gelegt. Es wird nie Schmerz, Sorge, Einsamkeit, Schande kennen. Ich stelle sie mir im Jenseits vor. Ist meine Mutter bei ihr? Ich kenne ihrer beider Schicksale nicht.
    Alle in meinem Haushalt machen mir Vorwürfe.
    Meine Schwiegermutter sagt: »Warum haben wir dich einheiraten lassen, wenn du keine Söhne bekommst?« Mein Mann sagt: »Du bist jung. Du bekommst noch mehr Kinder. Das nächste Mal bringst du mir einen Sohn.«
    Ich kann meinen Kummer gar nicht abschütteln. Niemand hört mir zu. Könnte ich doch nur hören, wie du die Treppe hinaufsteigst.
    Ich stelle mir vor, ich wäre ein Vogel. Ich würde in die Wolken aufsteigen, und die Welt unten würde ganz weit weg erscheinen.
    Der Jadeanhänger, den ich um den Hals getragen habe, um mein ungeborenes Kind zu schützen, lastet auf mir.
    Ich kann nicht aufhören, an mein totes kleines Mädchen zu

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