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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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betet hier jeden Morgen, bevor er in die Schmiede geht.«
    »Er sollte sich schonen.«
    Kunio verzog unfroh die Lippen.
    »Das sage ich ihm auch, aber was nützt das? Er hat noch ein Katana in Arbeit, ein Langschwert mit einer Gravur. Ich hämmere für ihn den Eisenbarren. Natürlich ist er nie mit mir zufrieden und schnauzt mich an. Es ist nicht leicht, mit ihm auszukommen. Er ist zu sehr daran gewöhnt, den eigenen Kopf durchzusetzen.«
    »Strengt ihn die Arbeit nicht an?«
    »Sie macht ihn kaputt. Und er will sich nicht ausruhen, bevor das Schwert fertig ist. Sein Lebenswerk, sozusagen, obwohl er es nicht so bezeichnen würde. Er ist wie ein kleiner Junge, unbesonnen und störrisch, der zeigen will, was er kann, bevor man ihn zu Bett bringt. Er schlüpft uns aus den Händen. «
    »Kann ihn die Großmutter nicht zur Vernunft bringen?«
    »Sie wird es niemals versuchen. Sie versteht ihn.«
    Wir wanderten den Pfad hinauf, zwischen alten Fichten und moosbewachsenen Felsen. In der Luft summten Mücken. Mit leisem Zwitschern verkündeten unsichtbare Vögel das Nahen des Abends. Der Himmel war blank. Über der Ebene lag violetter Nebel, während die Baumwipfel orangerot glühten. Nicht ein Zweig, nicht eine Nadel rührte sich auf den Bäumen. Nichts störte den Frieden dieses Waldes, der getränkt war von den warmen Düften der Erde, Pflanzen und Hölzer. Es war ein Augenblick der Ruhe, des Innehaltens. Selbst die Sonne schien ihren Lauf unterbrochen zu haben; ihre Strahlen hingen wie gemalt in der Luft. Unter den Bäumen formten sich merkwürdige Schatten; einer davon hatte eine menschliche Form. Eine Frau saß in einem Lichtkranz auf einem Stein. Ich sah sie nur verschwommen. Sie saß ganz ruhig und hielt eine Hand bewegungslos in Schulterhöhe. Ich wunderte mich über diese Geste, doch nur einen Herzschlag lang, denn ein winziger Blitz zuckte durch das Unterholz. Es war eine rote Libelle. Das Insekt umkreiste die sitzende Frau; sein Schatten, seltsam vergrößert, tanzte wie eine Luftspiegelung über den Waldboden. Plötzlich senkte sich die Libelle; der bebende Insektenkörper ließ sich auf der Hand der Frau nieder, verharrte dort im schwebenden Gleichgewicht. Eine plötzliche Erstarrung lähmte mich. Sie war seltsam geformt, diese Hand, die Finger verklebt, wie abgerun-det. Die aufrechte Haltung der Frau, ihre erhobene Hand weckten ein ganz bestimmtes Bild in mir: das Bild einer Buddhafigur, wie man sie – aus Erz oder Kupfer geformt – in den Tempeln aufstellt. Irgendwo, tief zwischen den Millionen Zellen meines Gehirns, tauchte eine bestimmte Erinnerung auf. Auf einmal, so schien es mir, geriet die Luft in Bewegung. Die Goldstäubchen schwärmten und flimmerten vor meinen Augen.
    Die Welt wirbelte zur Seite – und verschwand. Für den Bruchteil eines Atemzuges vergaß ich Kunio, vergaß, wo ich mich befand. Durch die Strahlen hindurch, wie durch einen Vorhang, sah ich nur diese Frau und die ruhende Libelle auf ihrer Hand.
    Die Flügel vibrierten wie eine Substanz aus Licht, ein schwir-rendes Filigran. Auf einmal hob sich das Insekt, zog einige Kreise, bevor es im Sonnenschein davonschoß. Ein glitzernder Pfeil, den die Schatten verschluckten. Da erst senkte die Frau den Arm. Sie wandte uns das Gesicht zu, erhob sich und kam uns entgegen. Der Boden festigte sich unter meinen Füßen. Mit einem hörbaren Rauschen und wirbelnden Lichtfünkchen schnellte die Welt zurück an ihren Platz. Ich stand da, inmitten der Büsche und Bäume, und hörte Kunio sagen:
    »Jetzt wirst du meine Großmutter kennenlernen. «
    22. Kapitel
    W ir gingen Hanako entgegen, ein paar Schritte nur; mir war, als ob sie ein Zeitalter überbrückten. Und dann stand sie vor uns, schaute uns freundlich an und lächelte. Kunio stellte mich vor. Ich verbeugte mich, stumm und wie im Traum. Hanako erwiderte meinen Gruß. Sie war mittelgroß, überschlank, trug verwaschene Kordhosen, eine hochgeschlossene Hemdbluse und eine blaue Strickjacke. Ihre kleinen Füße steckten in Turnschuhen. Das füllige weiße Haar war kurz geschnitten. Ihr Gesicht glänzte im Licht, vor allem die Stirn und die Wangen.
    Unter ihren Augen lagen schwere, violette Ringe, in denen die Äderchen sich ausnahmen wie eine Maserung. Ihr voller und scharf geschnittener Mund trug einen Zug von Schwermut.
    Ganz ruhig stand sie da, die Arme locker verschränkt, beide Hände in den Ärmeln ihrer Strickjacke verborgen. Ihr Blick war sanft und gleichmäßig. Ich rang vergeblich danach,

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