Seidentanz
waren.«
»Sie auch«, sagte er, mit einem Blick auf Hanako. »Sie hat mir eine Menge verschwiegen. Zum Beispiel, daß sie früher in Kobe war. Das hattest du mir nie gesagt, Obaa-chan«, sagte er auf japanisch zu ihr. »Und jetzt stehe ich da wie ein Trottel.«
Sein Vorwurf war nur gespielt; sie ging leichthin darauf ein.
»Du hattest anderes im Kopf. Außerdem waren wir ja nur kurze Zeit dort. Nicht einmal zwei Jahre.«
»Aber was habt ihr denn in Kobe gemacht?«
Ihr Lächeln erlosch.
»Ich verlor meinen Vater, als ich fünfzehn war.«
»Ja, ich weiß. Tuberkulose, nicht wahr?«
Sie nickte.
»Saburo Ota war ein Waisenkind und lebte bei Verwandten.
Harte Jugendjahre hatten seine Gesundheit geschwächt. Nach der Schule arbeitete er als Kellner oder Laufbursche, dann auch als Hilfsarbeiter auf einem Bauplatz. Nachts studierte er, denn er wollte Arzt werden. Auf diese Weise erwarb er sein Doktor-diplom.
Weil er seine Arbeit über alles liebte, schonte er sich nicht.
Er betrachtete es als seine Lebensaufgabe, anderen Menschen zu helfen. Und meine Mutter… Eigentlich wollte ich von meinem Vater erzählen. Nun, das macht nichts. Sie stammte aus einer angesehenen Arztfamilie. Damals gab es kaum Frauen, die Medizin studierten. Sie war eine der ersten. Ihre Eltern wollten nicht, daß sie meinen Vater heiratete; Fumi war ihr einziges Kind. Saburo war ihnen nicht gut genug. Schließlich willigten sie ein, unter der Bedingung, daß er den Namen der Braut – Terasaki – annahm. Dieses Vorgehen ist bei uns nicht unüblich. So wird das Prestige der Familie gewahrt und ihr Fortbestand gesichert. Aber Japan stand vor dem Krieg. Saburos pazifistische Gesinnung sorgte für heftige Auseinanderset-zungen. Die Schwiegereltern beschimpften ihn als Antipatriot.
Es kam zu einem endgültigen Bruch. Saburo und Fumi verwar-fen den Namen Terasaki. Als mein Vater starb, standen wir völlig mittellos da. Die Gelegenheit bot sich Fumi, eine Privatpraxis in Kobe zu übernehmen. Wir zogen also weg von Nagasaki. Ich ging in Kobe zur Schule und arbeitete nebenbei als Sprechstundenhilfe.
Dann kam der Krieg. Fumi wurde in den Lazarettdienst eingezogen. Bald konnte sie den Anblick der Verstümmelten nicht mehr ertragen und gab die Praxis auf. Wieder in Nagasaki, arbeitete sie bei einer Gesundheitsdienststelle und bildete He-bammen aus. Ihr Gehalt genügte kaum zum Essen für uns; immerhin konnten wir leben. Dann lernte ich Masato kennen und heiratete.«
Sie stockte, fuhr sich mit müder Geste über die Augen. »Das sind alte Geschichten. Aber manchmal müssen wir die Toten in unsere Nähe holen. Früher oder später werden auch wir gerufen.«
»Gomennasai«, sagte Kunio leise.
Sie schüttelte den Kopf.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Aber eines mußt du wissen: Du kennst Ruth noch nicht lange. Mir aber kommt es vor, als sei Lea wieder da. Das hat eine Bedeutung für mich.
Es gibt Gedanken, die wir aus vielen Gründen nicht teilen. Wir sind durch unsere Geschichte geprägt. Verleugnen wir das Erlernte und Erlebte, bildet sich eine innere Kruste. Es waren schlimme Zeiten, damals. Dies hier ist etwas anderes.«
Sie verstummte. Nebel hatte sich auf die Erde gesenkt; das Dämmerlicht schwelte wie Rauch, das Buschwerk davor war geheimnisvoll und schwarz. Nach einer Weile seufzte Hanako, legte ihre Hand auf Kunios Arm und setzte sich etwas steif in Bewegung.
»Ich glaube, wir brauchen jetzt alle einen Tee. Langsam, Kunio-chan! Ich gehe ziemlich viel zu Fuß. Aber abends sehe ich schlecht. «
Es war nun fast dunkel. Der Mond schien noch nicht. Das al-te Haus war ein finsterer Klotz, mit der Landschaft verwachsen.
Die Tür war nicht abgeschlossen. Hanako machte Licht. Wir zogen unsere Schuhe auf dem Steinfußboden aus; das spiegel-blanke Holz des Korridors glänzte. Die üblichen Schiebetüren trennten die Räume. Das Reispapier hatte an manchen Stellen Risse, die Bodenmatten waren gelb vor Alter. Eine Stehlampe beleuchtete die Einrichtung: ein schwarzes Klavier, ein niedriger Tisch mit einem Wachstuch, ein elektrischer Heizofen. Die Türen der Einbauschränke waren aus Pappe, mit Löchern versehen; man steckte die Finger in die Löcher, um sie zu öffnen.
An den dunkelbraunen Wänden hingen alte Fotografien. Sie zeigten Männer und Frauen in traditionellen japanischen Ge-wändern. Sie glichen sich ganz auffällig, besonders die Gesichter. Alle waren gleichförmig, die Blicke ausdruckslos und fern, eine Verschmelzung in
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