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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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einen Satz zu bilden, irgendeinen Satz. Mein Schweigen fiel wohl nicht auf, denn Kunio erzählte, daß wir bei seinem Vater gewesen waren. Hanako seufzte.
    »Wie fühlt er sich?«
    »Müde. Wir blieben nur kurz, aber er hat zuviel geredet.«
    Hanako schüttelte den Kopf. »Er ist unverbesserlich!«
    Ihre Stimme war volltönend, klar. Sie lächelte mich an; ihr Lächeln kam ganz spontan. Ihre unteren Schneidezähne standen leicht vor, was ihrem Gesicht etwas Mädchenhaftes gab. Ich lächelte zurück; es war ein schnelles Hinüber- und Herüber-flackern von Sympathie.
    »Sie nehmen Unterricht bei Sagon Mori?« fragte sie. »Ich kenne die Familie gut. Schon seit Jahren.«
    Ich fand, daß ich etwas sagen mußte.
    »Ich habe Ihre Kalligraphie in seinem Besuchszimmer gesehen. Sie ist wunderschön.«
    Hanako lachte jugendlich, anmutig.
    »Ach, das ist ja nur ein Tuschbild. Die weiße Fläche bedeutet unendlich viel mehr! «
    Es war denkbar, daß sie mich neckte; mir fiel keine passende Antwort ein. Als ob ich jede Gewalt über meine Gedanken verloren hätte. Wie schnell man unsicher wird, wenn man vor einem Rätsel steht! Wir schlugen den Pfad ein, der durch den Wald führte. Ein kupferner Schimmer lag jetzt über allem, selbst über den Schatten. Die rostrote Erde war locker, zerbrök-kelt. Ich horchte auf die leisen Geräusche, die Mücken, die welken Blätter, unseren Atem. Es lag etwas in der Landschaft, in dem Licht, das den Eindruck erweckte, ich befände mich in einem Tagtraum, in jener Welt der Irrealität, die ich schon zahllose Male in meiner Phantasie betreten hatte. Wieder zuckte eine Libelle vorbei. Hanako blickte ihr nach und lächelte.
    »Sind sie immer so zutraulich?« murmelte ich.
    »Sie haben keine Angst«, sagte Hanako.
    »Wer?«
    »Die Libellen.« Sie blickte mich an. »Sie haben doch danach gefragt.«
    »Ach ja, richtig.«
    Hanako ging etwas gebückt, setzte die Zehen stark einwärts, schien aber den Boden kaum zu berühren.
    »Es gibt eine Legende: Bei einem Jagdausflug wurde Kaiser Yuryaku von einer Bremse in die Handfläche gestochen. Da kam eine Libelle und fraß die Bremse.«
    Sie zog eine Hand aus dem Ärmel, zeigte mir die offene Handfläche. Eine unbefangene, gedankenlose Geste. Ich starrte diese Hand aus der Nähe an und wußte Bescheid: eine Keloide, die Auswirkung des Atomblitzes. Das Gewebe schmilzt und wächst verkrüppelt zusammen. Sehr wahrscheinlich war sie am ganzen Körper entstellt. Doch Hanako sprach ganz unbekümmert weiter.
    »Der Kaiser verfaßte ein Gedicht zum Lob der Libellen und verbot, daß man ihnen Schaden zufügte. Seitdem wurde Japan
    ›Insel der Libellen‹ genannt.«
    Ich nickte, wobei ich die Lippen fest geschlossen hielt. In mir war ein taubes Gefühl, eine Art inneres Summen. Ich konnte diese alte Dame nicht fragen, was vorher geschehen war, ob sie in Kobe gewohnt hatte, wie ihr Mädchenname lautete. Ob sie jährlich, am sechsten Juni, eine Irisblüte auf ein altes Grab legte. Die Fragen waren zu persönlich, zu schwierig. Ich hatte Angst davor, sie zu stellen. Sie nahmen Bezug auf Ereignisse, die tief und schmerzlich ihr Leben verändert hatten. Ich konnte nicht sprechen. Vielleicht war alles nur ein Eindruck und ein falscher dazu. Ich hatte nichts als Vermutungen und diffuse Gefühle. Und was, wenn sie sagte: »Es tut mir leid, Sie verwechseln mich.« Ihre Stimme würde nachsichtig klingen, vielleicht sogar vorwurfsvoll. Nein, dachte ich, ich warte lieber.
    Sobald Kunio und ich wieder allein sind, werde ich das Thema noch einmal ansprechen. Sachlich und in aller Ruhe. Nicht vorher. Um keinen Preis vorher. Denn wenn ich mich irre, hat es doch wirklich keinen Sinn, sie in Aufruhr zu bringen.
    »Die Dame, die das Grab besucht, hat die Hand eines Buddhas«, hatte der Friedhofswächter damals zu Lea gesagt. Lea war jetzt wieder in meinen Gedanken, zerrte an mir. Unwillkürlich starrte ich auf Hanakos Hand; sie bemerkte meinen Blick.
    Ihr Gesicht versteifte sich unmerklich; sehr langsam zog sie die Hand wieder zurück, verbarg sie im Ärmel ihrer Strickjacke.
    Ich sagte immer noch kein einziges Wort, doch mein Ausdruck mußte verstört wirken, denn sie lächelte, sanft und mütterlich.
    »Es tut mir schon lange nicht mehr weh. Und hat mich auch kaum bei der Arbeit behindert. Es war nur eine Sache der An-passung. «
    Ich wollte schlucken, aber mein Mund war ausgetrocknet.
    Ich spürte ein Kribbeln im Magen, und plötzlich wußte ich kein Wort Japanisch mehr. Ich sah zu

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