Seidentanz
Kunio auf; in seinen Augen stand Ratlosigkeit. So stumm und finster kannte er mich nicht.
Mein Herzklopfen wuchs. Das alles ergab keinen Sinn. Ich quälte mich mit etwas Verwirrendem, das stärker war als ich.
Koste es was es wolle, ich mußte dieser Betroffenheit ein Ende setzen.
»Es tut mir leid, Kunio. Ich bin ganz durcheinander. Ich muß deine Großmutter etwas fragen. Würdest du für mich überset-zen?«
Ob ihre Mutter den Namen Fumi Ota trug, wollte ich wissen.
Ob sie selbst, Hanako, früher mal eine Freundin hatte, die Lea hieß. Bloß diese zwei Fragen. Bitte. Und ich setzte hinzu:
»Sag ihr, daß ich die Tochter bin.«
Ich rechnete damit, daß es ihm peinlich war. Doch er sprach zu ihr ganz sachlich, mit einer Stimme, die nicht anders als sonst klang. Sie jedoch verharrte regungslos, das Gesicht mir zugewandt, die Augen weit aufgerissen. Ich hatte das Gefühl, daß alles in ihr stockte: Atem, Blut, das Leben selbst. Ein paar Atemzüge vergingen, bevor sich ihre Lippen bewegten. Die Stimme, die ich jetzt hörte, war rauh, ein kaum hörbares Flü-
stern.
»Lea? Du bist Leas Tochter?«
Nicht nur mein Gesicht, auch mein Zwerchfell glühte, während ich, den Blick fest auf den ihren gerichtet, langsam nickte.
Da trübten sich ihre Augen; die Lider, dünn wie Reispapier, zuckten. Sie streckte beide Hände aus; ihre Hände ergriffen die meinen; sie klammerte sich so fest an mich, daß ich den Eindruck bekam, ich sei mit ihr verwachsen. Ihr Gesicht drückte Gefühle aus, die ich nicht deuten konnte, Ergriffenheit, Freude oder Schmerz, wahrscheinlich alles zusammen. Ein leichtes Stöhnen entrang sich ihr, ein Aufschluchzen fast. Und dann quollen, während ihr Gesicht sich zur Seite neigte und ein Beben über ihr Kinn lief, Tränen unter den Lidern hervor.
»Du wirst Hanako treffen, ich habe in die Tasse geschaut«, hatte Lea gesagt. Ein tief eingewurzelter Glaube macht es möglich, durch intensive, genaue Vorstellungen solche Dinge her-beizuziehen. Lea, die Magierin, hatte diese Macht. Es war ihr gelungen, die Verbindung zwischen der äußeren Wirklichkeit und ihrer eigenen Wirklichkeit herzustellen – und zwar durch mich. Alles geschieht, wie es geschehen muß und zur rechten Zeit. Das begriff ich nicht ohne eine gewisse Ehrfurcht. Ich erkannte, daß die Jahre, die Jahrzehnte, nur Schritte waren, die das Schicksal maß, daß diese Jahre nicht gezählt hatten, so wie die Schritte nicht zählen, die jemand zurücklegt, der zu einem Treffen eilt. Daß zwischen Lebenden und Toten eine Verknüpfung bestand, vielleicht sogar eine Verschwörung. Das war es, was ich mit so großer Intensität jetzt spürte; es war wie ein Blutsband zwischen uns. Aber würde ich fähig sein, die Bedeutung und das Geheimnis zu erfassen?
Sie drückte meine Hände, daß es schmerzte.
»Wie geht es ihr, Ruth? Ist sie gesund?«
Wir lächelten uns an, unter Tränen.
»Ja. Es geht ihr gut. Sie war Tänzerin. Sie hat die Bühne erst vor ein paar Jahren verlassen.«
»Ja, Lea wollte Tänzerin werden«, sagte Hanako. »Sie hat es also geschafft. Das ist gut. Das ist gut…« Sie wiederholte mehrmals die Worte und nickte, ganz ihren Erinnerungen hin-gegeben. »War sie berühmt?« setzte sie mit lebhafter Anteilnahme hinzu.
»Ich glaube schon. Sie erreichte alles, was sie wollte. Sie war sehr eigenwillig. «
»Das war sie schon immer.«
Hanako lachte plötzlich auf; ihr Lachen klang dünn und brü-
chig, eher wie ein Schluchzen. Sie ließ meine Hände los, zog ein schön gefaltetes Taschentuch hervor und betupfte sich Stirn und Wangen. Die Ringe unter ihren Augen wirkten jetzt tief und zerknittert. Der Bann war gebrochen. Ich wandte den Kopf und begegnete Kunios Blick. Ich konnte mir vorstellen, daß er vielleicht gekränkt war. Er schaute mir in die Augen; ich konnte darin keinen Vorwurf erkennen, nichts, außer Rührung und vielleicht einen Funken Humor, einen kaum wahrnehmbaren Schalk.
»Darauf war ich überhaupt nicht gefaßt.«
Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Eine unverständliche und gleichzeitig ansteckende Heiterkeit breitete sich um uns aus.
»Was für ein Tag!« stöhnte ich.
»Wer weiß, was noch kommt?«
»Vieles ist für mich ganz unverständlich.«
Seine Augen glänzten stark.
»Stimmt. Eine eigenartige Geschichte ist das.«
»Es ist meine Schuld«, gab ich zu. »Meine Mutter sprach oft von merkwürdigen Dingen. Ich habe dir nicht alles gesagt.
Bloß deswegen. Weil sie so merkwürdig
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