Seidentanz
vertraut, aber ich weiß nicht, wem die Hand gehört. Seltsam, daß mein Gedächtnis mich derart in Stich lassen konnte. Nach und nach lichtete sich der Nebel. Die Stimme, die zu mir sprach, klang jetzt näher. Ich bewegte den Kopf, dieser Stimme entgegen. Ich sah einen Schatten; Hände hoben mich hoch. Ich fühlte mich in einer Umarmung gehalten, die kein Traum, sondern spürbare Wirklichkeit war. Ein Gesicht schaute auf mich herab. Die Augen strahlten Ruhe aus, und das Lächeln war traurig, aber voller Zärtlichkeit, so daß ich dieses Lächeln erwiderte. Die gespen-stischen Bilder tauchten fort, in die Windungen meines Gehirns. Da war eine Stelle in mir, ich wußte, daß die Bilder exi-stierten; aber ihnen haftete kein Sinn mehr an, sie waren nutz-los und obendrein erschreckend. Vielleicht würde ich jetzt schlafen können. Ich fühlte mich stark genug.
»Jedenfalls habe ich den Rhythmus verloren«, sagte ich.
»Das ist wirklich beschämend.«
Meine normale Stimme. Ich schlug die Augen auf. Oder vielleicht waren sie bereits seit einiger Zeit offen. Das Gesicht, das zuerst nur eine undeutliche Vision gewesen war, nahm im Lampenlicht scharfe Umrisse an. Der Nebel zerteilte sich, die Dunkelheit wich – und was blieb, war das Gesicht. Ein Gesicht, dessen geringste Einzelheiten ich kannte.
»Kunio!«
»Endlich!« sagte er, und seine Stimme klang erschöpft.
»Was war mit mir?«
Ich bewegte die Hände, als wollte ich die Worte festhalten, ehe sie meinem Mund entschlüpften. Das Erwachen meiner Vernunft erfüllte mich mit Schrecken.
»Du warst krank.«
»Schlimm?«
»Ziemlich. Ein Nervenschock.«
»Wie lange schon?«
»Seit zehn Tagen.«
Ich starrte auf die Infusion in meinem Arm, fuhr mit der Zunge über die trockenen Lippen.
»Ich habe Durst.«
Auf dem Nachttisch stand ein Glas mit Wasser, ein kleiner Krug. Kunio stützte mich, half mir zu trinken. Das Wasser rieselte wunderbar weich und kühl in meinen Mund. Als das Glas leer war, lehnte ich mich an Kunios haltenden Arm. Ich sagte, stirnrunzelnd:
»Du siehst ziemlich schlecht aus. Unrasiert.«
Er rieb sich das Kinn und grinste.
»Ich habe mich in den letzten Tagen etwas gehenlassen.«
»Bist du jeden Tag hier gewesen?«
»Sogar nachts.«
Er deutete auf das zweite Bett im Zimmer. »Da kein Patient das Bett belegte, hat man es mir erlaubt.«
»Ich danke dir.«
»Keine Ursache. Ich war nur dem Pflegepersonal im Weg.«
Ich lächelte und schlief ein. Als ich erwachte, fühlte ich mich ausgeruht und frisch. Im Zimmer schien hell die Sonne. Schwestern kamen und gingen auf lautlosen Gummisohlen, klopften mit gewandten Händen meine Kissen zurecht. Ich durfte leichtes Essen zu mir nehmen. Der Arzt erschien, ein rundlicher Mann mit klugen Eulenaugen hinter dicken Brillengläsern. Ich würde bald wieder auf den Beinen sein, meinte er. Ich sollte aber – vorsichtshalber – noch zwei oder drei Tage zur Beobach-tung dableiben. Schlaftabletten wären nicht mehr nötig, sagte er. Das Zimmer war voller Blumen, und auf der Kommode stand ein großer Korb mit Orangen. Eine Karte war nicht dabei.
Wer auch immer sie geschickt hatte, die Orangen schmeckten süß und köstlich. Der Saft lief in meine ausgetrocknete Kehle wie ein Lebenselixier. Ich gab mich ganz diesem Entzücken hin. Der Arzt sagte lächelnd, die Orange sei die Frucht, die ich nun am dringendsten benötigte. Ich mußte eingeschlafen sein, und als ich wieder aufwachte, saß Kunio auf meinem Bett, neben dem Infusionsständer.
»Schön, daß du da bist«, sagte ich.
»Ich habe mit meinem Vater gearbeitet. Ich bin gekommen, sobald ich konnte.«
Die Strahlen der Sonne waren lang und orangefarben; es mußte später Nachmittag sein. Ich hatte lange und traumlos geschlafen und fühlte mich unbeschreiblich gut. Kunio sagte:
»Sagon und Aiko haben gefragt, ob sie dich besuchen können. Der Arzt hat nichts dagegen.«
»Gewiß. Wann kommen sie?«
»Morgen. Ich hoffe, daß es dir recht ist.«
Ich spielte mit seiner Hand, geistesabwesend.
»Kannst du mir sagen, was eigentlich passiert ist?«
Sein Gesicht wurde ernst. Er seufzte.
»Mach dir jetzt keine Gedanken, Ruth.«
»Doch, Kunio, ich will es wissen.«
Die paar Worte genügten, schon war ich wieder klamm und erschöpft. Schweiß klebte auf meiner Stirn. Kunio bettete mich sanft auf die hochgerichteten Kissen, nahm ein Kleenextuch und tupfte mir das Gesicht ab. Dann sagte er:
»Okay, vielleicht sollten wir darüber reden. Solche Dinge kommen
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