Seidentanz
Krampf. Irgendwo, in weiter Ferne, schrillten Flöten, pochte eine Trommel wie ein stetiges Herz. Die Aufgabe, den Ranrô-ô zu bannen und gleichzeitig zu tanzen, war die schwierigste, die ich je erfahren hatte.
Ich vermeinte, daß meine eigene Haut wie das Trommelfell bebte, daß Feuer in meinen Adern kreiste. Die Ordnung bestand nicht mehr, meine peripherischen Wahrnehmungen waren von Schatten erfüllt. Mit einem Rest von Klarheit dachte ich an Daisukes Warnung: Die ungeheure Halluzination ließ sich nur mit einer Schutzvision bekämpfen, so ungeschickt und roh und elementar sie auch sein mochte. Schmerz und Wut halfen mir, meine ganze Willenskraft aufzubieten. Suche etwas, was du ansehen kannst, sonst wirst du verrückt, Ruth! Mein Unterbewußtsein arbeitete; ich fühlte die Schwingungen der Alpha-Wellen in meinem Gehirn. Ich litt unter dem Eindruck, daß dies alles schon zu spät war. Aber möglicherweise war da etwas, das ich zustande bringen konnte. Ganz plötzlich schwieg die Trommel; die Zither erklang, volltönend und feierlich. Der Rhythmus hatte gewechselt. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde ich abgelenkt. Da schlug der Dämon zu, bohrte mir seine Krallen in den Schädel. Mir war, als zerrte er mir das Fleisch von den Knochen, die Augen aus den Höhlen, die Zunge aus dem Gaumen. Ich spürte ein heftiges Reißen und Stoßen, einen stechenden unerträglichen Schmerz. Ich sah, wie mein eigener Kopf, auf der Hellebarde aufgespießt, mich ohne Augen aus blutigen Höhlen betrachtete; sah meinen Körper, in Fetzen zerrissen, wie bei einer Explosion durch die Luft wirbeln. Die Gegenwart fiel wie ein Vorhang; vor mir tat sich die Zukunft auf. Die Vision spulte sich wie ein Filmstreifen ab, mit ausge-schaltetem Ton. Hochhäuser schwankten, sackten in sich zusammen, jedes Stockwerk rutschte auf das andere. Ein Gebäude riß sich aus den Grundfesten, stürzte auf eine Straße, die es völlig verstopfte. Zwei gigantische Pfeiler, die eine Autobahn stützten, brachen entzwei wie Streichhölzer. Betonblöcke schwebten hinab, im Zeitlupentempo, rollten einen Hang hinunter, prallten gegen eine Häuserfront. Steine und Glas, Blech-haufen zerquetschter Wagen, blutige und verstümmelte Körper lagen in riesigen Schuttbergen verstreut. Menschen wankten durch die Trümmer, ich sah sie schreien – und hörte dabei nichts, kein Geräusch. Straßen hoben und senkten sich wie Meereswogen. Und obwohl ich diese Scheinbilder nur wie die Körner eines unscharfen Filmstreifens wahrnahm, konnte ich sie keinen Herzschlag länger mehr ertragen. In meinem Alptraum tastete ich nach dem Knoten; versuchte vergeblich, ihn zu lösen. Indem ich mich mit dem Knoten abgab, konnte ich mich von dem abwenden, was ich nicht sehen wollte. Aber der Knoten saß fest. Ein Gegenstand klebte auf meinem Gesicht, mit meiner Haut verwachsen. Jetzt gab es keine Musik im Hintergrund mehr – nur noch das Blut in meinen Adern, rauschend und pochend. Das Geräusch fing meine Aufmerksamkeit auf und hielt es fest. Man konnte es eine Zeitlang mit Regen verwechseln, und es erinnerte mich an einen Traum. Einen Traum, in dem es regnete. In diesem Traum hatte ich ein Kind gesehen und eine Schlange. Aber dies konnte unmöglich der richtige Traum sein, auch wenn er mir mit jedem Atemzug ein wenig deutlicher vor Augen trat.
»Laß diesen Blödsinn«, sagte der Ranrô-ô. »Du und ich, wir sind noch nicht fertig.«
Ein Bild explodierte vor meinen Augen: eine Masse aus Beton, Glas und Balken, vom Flammenlicht erleuchtet. Und eine Hand, die aus den Trümmern ragte, wie eine seltsame Blume: eine Frauenhand, gelenkig und schön und blutüberströmt.
Ich schrie; oder vielleicht träumte ich nur, daß ich schrie. Im Aufruhr von Luftholen und Pulsschlag konzentrierte ich meine Gedanken nach innen, ganz nach innen, wendete mich von dem Furchtbaren ab, das der Ranrô-ô mir zeigte. Ich wollte lieber an das Kind denken und an die Schlange. Das Kind schlief, aber die Schlange bewegte sich: Ihre Ringe pulsierten unter einer dünnen, mit Blutgefäßen durchzogenen Membrane. Ich verstand zwar nicht, warum sich die Schlange in meinem Gehirn befand, aber sie zu beobachten war eine interessante Beschäftigung. Auf einmal platzte die Haut, die sie umgab, wie eine reife Frucht. Die Schlange hob sich träge aus dem Spalt hinaus; ihre Ringe waren verflochten und bildeten eine Art Zopf, olivgrün und rötlich gesprenkelt. Ich kam zu dem Schluß, daß es keine wirkliche Schlange war,
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