Seidentanz
gebrochen; die Zuschauer spendeten kräftig Beifall. Zurufe, Pfiffe und Händeklatschen brandeten über den Platz. Pierre sandte einen letzten Akkord, ließ den Tragriemen von einer Schulter gleiten. Die Venezianer riefen einander zu und lachten, bevor sie sich in lebhaften Gruppen verstreuten. Einige warfen Münzen und sogar Geldscheine auf die Kleider der Tänzerin, die zerknüllt auf den Marmorstufen lagen. Das Lachen der jungen Frau ließ nach, und sie sah mir ernsthaft ins Gesicht. Aber dann fing sie wieder an zu lachen und legte den Finger auf ihre Nasenspitze.
»Naomi«, sagte sie.
Ich deutete auf mich.
»Ruth.«
»Wo kommst du her?« fragte sie auf englisch.
»Aus der Schweiz. Und du?«
»Aus Japan.«
Ich schaute sie gedankenverloren an. Das alles paßte irgendwie zusammen. Theatralik ist niemals auf die Bühne beschränkt. Sie und ich hatten unser Leben geführt, abgesondert voneinander, bis zu diesem Tag, an diesem ganz bestimmten Platz, neben dem Brunnen, wo sich unsere Schicksale wie eine schnurgerade Linie trafen.
»Du gehst nicht umsonst nach Venedig«, hatte Lea, die Magierin, gesagt. Wunderbar, dachte ich, sie wird sich sicher dar-
über freuen. Mir wurde schwindlig, ihr nicht.
»Bist du zum ersten Mal in Italien?« fragte ich.
Der Kopf mit dem weißgepuderten Haar gab ein Zeichen der Bestätigung.
»Zum ersten Mal, ja.«
»Der Winter«, sagte ich, »ist nicht unbedingt die beste Jahreszeit.«
Englisch war eine Sprache, die wenig meinen Gefühlen entsprach; sie war nichts als ein Hilfsmittel, wie Worte es ja sind.
»Nein.« Sie lachte jetzt wieder und kreuzte die Arme über ihre nackten Brüste.
»Dir ist kalt«, stellte sie fest.
»Dir auch«, sagte ich. »Wir sollten uns anziehen.«
Alwin brachte mir mein Kleid; ich zog es über Hüften und Schultern; er schloß hinten den Reißverschluß. Die Berührung mit dem kalten Stoff ließ mich frösteln. Selbst der spanische Schal vermochte mir keine Wärme zu schenken.
»Setz dich«, sagte Alwin.
Ich ließ mich auf den Stufen des Brunnens nieder. Alwin kauerte hinter mir, massierte meine Schultern und Arme mit kreisenden Bewegungen. Naomi sammelte die Münzen ein, bückte sich nach ihren Kleidern. Sie trug jetzt einen Trainingsanzug mit Kapuze, weiß, aus zerknitterter Kaschmirwolle.
»Meine Partner«, stellte ich vor. »Pierre und Alwin.«
Zwischen Künstlern entsteht sofort ein Gefühl innerer Zusammengehörigkeit; sie suchen, ganz instinktiv, ihresgleichen.
Und alle haben die gleiche Schnelligkeit der Beurteilung.
»Ich habe dich schon einmal gesehen«, sagte Pierre zu Naomi. »In La Rochelle, kann das sein?«
Sie nickte und schien erfreut.
»Ja. Ich gehe jedes Jahr nach Europa. Ich bin für Festivals verpflichtet oder nehme an Performances teil. Und manchmal trete ich als Straßenkünstlerin auf.«
»Wenn der Rahmen paßt, macht das Spaß«, warf ich ein.
»Ja, sonst hat es wenig Sinn. Aber wir lernen immer etwas dabei.«
Pierre ließ einen Akkord klingen.
»Genau. Die Arbeit von heute ist besser als die von gestern.«
Ein kleines Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel. Hinter den gepuderten Brauen war ein Flaum von weichem Haar sichtbar.
»Im Tanz lernen wir gehen, uns bewegen, atmen. Wenn wir es auf der Bühne schaffen, können wir es auch im Leben.«
Ich legte den Kopf in den Nacken, bewegte wohlig den Hals hin und her.
»Das tut gut!« sagte ich zu Alwin.
Naomi nickte ihm anerkennend zu.
»Du massierst gut.«
Wie immer bei ihm, kam die Antwort schwerfällig und sachlich.
»Wenn du massierst, sobald der Muskel sich härtet, wird es sofort besser. Du spürst unter den Händen, wie die Wärme in das Gewebe dringt. Das ist ein besonders schönes Gefühl, finde ich.«
»Ja, ich weiß«, erwiderte sie ernst.
Die Nebel hatten sich verdichtet; vom offenen Meer kam eisiger Wind. Nach dem Tanz muß man aufpassen, daß man sich nicht erkältet. Ich wickelte mich enger in meinen Schal.
»Ich brauche einen Pullover.«
Naomi machte einen Vorschlag: »Ich wohne ganz in der Nä-
he. Du kannst bei mir duschen. Und ich gebe dir etwas Warmes zum Anziehen.«
»Großartig!«
Das Hotel, ein ehemaliges Handelshaus, besaß noch eine An-legetreppe für die Boote. Die früheren Räume fürs Wagenlager waren in eine Trattoria umgewandelt worden. Im Obergeschoß wurden Zimmer an Touristen vermietet. Während die Männer im überfüllten Restaurant einen Tisch suchten, stieg ich hinter Naomi eine Treppe hinauf. Korridore waren durch
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