Seidentanz
Kurven, Schrägecken und Stufen miteinander verbunden. Der Ton der Schritte wechselte von Teppichboden zu Fliesen, zu abgetrete-nen Holzdielen und Linoleum. Das Zimmer, klein und düster, lag am Ende des Flurs. Eine Schiebetür führte in einen winzigen Duschraum, mit einem Waschbecken und einem WC, alles so eng, daß man mit Ellbogen oder Knien an die Wand stieß.
Naomi lächelte mir zu.
»Du zuerst.«
Sie gab mir Watte und Cold Cream zum Abschminken. Ich zog mich aus, steckte mein Haar hinter die Ohren und entfernte sorgfältig jede Spur von Farbe. Dann stellte ich mich unter die Brause. Das Wasser roch nach Chlor, doch kam es mir wunderbar heiß vor. Ich ließ es auf meine Haut prasseln, bis sie krebsrot wurde. Als ich, in ein Laken gewickelt, aus dem Duschraum kam, hielt mir Naomi einen Trainingsanzug hin, das gleiche Modell mit Kapuze, nur in Schwarz.
»Der sollte gehen«, meinte sie.
Ich schlüpfte in mein Trikot und zog darüber die Wollsachen an. Inzwischen ging Naomi ins Badezimmer. Sie blieb dort eine ganze Weile. Als sie herauskam, war sie völlig nackt. Am Körper war der Unterschied nicht groß; ihre Haut war so hell, als ob sie die Schminke kaum abgewischt hätte. Doch nun sah man ihre Brustwarzen, rosa und klein, fast ohne Aureole. Die Schamhaare kaum ein Flaum; ich nahm an, daß sie sich rasier-te. Naomi war nicht mehr ganz jung – jetzt, wo sie abge-schminkt war, sah man das, ich schätzte sie auf knapp über dreißig. Sie hatte eines dieser großflächigen Gesichter, die erst im Rampenlicht ihre Schönheit zeigen. Die Haut war straff und makellos, die Lippen traten leicht vor, mit einen Zug von Schwermut. Ihre langbewimperten Augen waren eher rund als mandelförmig; die Pupillen sahen einen nicht gerade an, sondern ein wenig von der Seite. Ihre Brauen schienen mir die schönsten, die ich je bei einer Frau gesehen hatte: wie Vogelfe-dern, bläulich schimmernd, und an den unteren Enden flaumig.
Ihr Haar, das sie ausgebürstet und beim Duschen unter eine Haube gesteckt hatte, fiel in Wellen auf die sehnigen Schultern.
Es war nicht vollkommen schwarz, sondern kastanienbraun.
Jetzt blickten wir uns an. Sie sagte:
»Die Schminke verändert einen sehr.«
Ich nickte.
»Man ahnt es nicht.«
Sie ging an mir vorbei, zog einen Baumwollslip an, weiß und züchtig wie der eines Kindes. Dann ein Sweatshirt und darüber ihren Trainingsanzug.
»Du magst Kaschmir«, stellte ich fest.
Sie zeigte ihr helles, lebhaftes Lächeln.
»Pullover aus Kaschmir sind nur abgetragen schön, oder? Ich trage sie, bis sie Löcher haben.«
»Ich auch. Manchmal vergesse ich mich auszuziehen, wenn ich zu Bett gehe, und schlafe mit Pullover. «
»Kaschmir kratzt nicht auf der Haut.«
Ihre Stimme war klar und volltönend. Der japanische Akzent, der kaum zwischen R und L unterscheidet, verlieh dieser Stimme einen besonderen Reiz, etwas Kindliches. Sie drückte Creme aus einer Tube in ihre Handfläche.
»Da, möchtest du auch?«
Theaterschminke trocknet die Haut aus. Wir cremten uns sorgfältig das Gesicht ein. Ich bemerkte, wie ihre Augen mich im Spiegel beobachteten.
»Was treibst du so im Leben, außer Tanzen?«
»Bewegungstherapie. Ich unterrichte Behinderte. Aber manchmal fühle ich mich selbst als Patientin. Ich will sagen, daß ich mich einerseits auf die gleiche Stufe mit den Patienten stellen muß. Andererseits muß ich mich hüten, als echte Patientin zu erscheinen.«
»Schaffst du es?«
»Weißt du, es ist ein Balanceakt. Als Tänzerin habe ich den Vorteil, daß ich die Dinge nicht analytisch auslege wie eine Ärztin.«
Sie betrachtete mich sehr intensiv.
»Störst du dich an der analytischen Methode?«
»Ich finde, man darf den Behinderten keine Methode aufzwingen, das wäre ganz verkehrt. Man muß sehr menschlich mit ihnen umgehen.«
Sie senkte ihre Augenlider auf eine sonderbare Weise. Ich spürte eine Ergriffenheit in ihr, die ich nicht deuten konnte. Sie hatte sich plötzlich zurückgezogen, in ein fernes Land, ein Land noch ungesprochener Worte, ungeteilter Gedanken.
»Glaubst du, daß man Patienten mit dieser Therapie heilen kann?«
Die Frage klang vorsichtig, und gleichzeitig sehr bestimmt.
Es interessierte sie. Ich schüttelte den Kopf.
»Niemand kann genau sagen, wo die Krankheit beginnt und wo sie endet. Letztlich hängt viel von der Gesellschaft ab, in der wir leben. «
Sie entwirrte ihr Haar mit beiden Händen, und immer noch lag der abwesende Ausdruck auf ihrem Gesicht. Nach einer
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