Seidentanz
tauchte unter den Brücken eine Gondel auf, prunkvoll und düster wie ein schwarzer Drache, auf dessen Flügeln Fabelwesen Weinflaschen schwenkten. Zwei Dominos wanderten im Gleichschritt daher, mit Augenmasken aus schwarzem Satin; unter ihren finsteren Umhängen schillerte Seide, gelb und blutrot. Ein starker Duft nach Sandelholz wehte uns entgegen. Kleine Arlecchini, flatternd und zwitschernd wie Kolibris, warfen sich Konfetti zu; unbeirrbar setzte das rote Pferd seinen Weg fort, zog an verborgenen Gärten und Arkaden vorbei, an Eisengittern, an dunklen Hauseingängen; in einem engen Gas-sengewirr verloren wir es aus den Augen. Ein Durchlaß führte an der Querseite der Häuser entlang. Mit einem Mal war es, als ob die Nebel sich lichteten. Um uns herum flimmerte eine ganz zarte Aura in den Farben des Regenbogens. Wir bekamen den Geruch des Meeres in die Nase, salzig, mit Öl und Teer vermischt. Die Sirene eines Frachtschiffes heulte ganz nahe. Von Augenblick zu Augenblick veränderten sich die Nebelschwa-den. Vor uns, zwischen zusammengedrängten Häusern, vier, fünf Stockwerke hoch und in schäbigen Tönungen, wo es nach Nudeln, Gewürzen und gebratenem Fisch roch, erschien eine
»Piazzetta«, hufeisenförmig und völlig unsymmetrisch, in deren Mitte ein marmorner Springbrunnen plätscherte. Ein seltsamer Goldglanz lag über dem Platz, feine Strahlenbüschel, die sich zu verdichten schienen. Im flimmernden Licht standen Menschen, fast hundert Personen, und bildeten einen Kreis.
Keiner sprach oder bewegte sich; selbst die Kinder standen still, wie gebannt. Als wir näher traten, sahen wir eine nackte, weißbemalte Frau, die sich wie ein träger Kreideschmetterling langsam um sich selbst drehte.
4. Kapitel
S ie war eine Butoh-Tänzerin, ich sah es auf den ersten Blick.
Butoh – der japanische »Tanz der Finsternis«, aus der Welt der Bauern geboren, irrational und erotisch, ein magischer Akt der Schamanen, gleichzeitig revolutionär und zeitgenössisch in seinem Widerstand gegen jede herkömmliche Theorie. Karneval ist das Ritual der Egozentriker; jeder betrachtet sich selbst, sieht sich in Verbindung mit dem anderen, wie in einem Spiegel. Doch hier standen die Menschen völlig selbstvergessen, die Augen auf diese Frau gerichtet, die gedankenschwer und mu-siklos tanzte. Bis auf einen winzigen weißen Lendenschurz war sie nackt. Und dennoch bot sie das Schauspiel einer vollkommenen Unnahbarkeit. Von Kopf bis Fuß mit weißer Schminke bedeckt, schien sie seltsam körperlos, irreal, ein vogelgleicher Schatten. Selbst Augenbrauen und Lippen sowie das Haar, kräftig und federnd, waren weiß gepudert. Sie trug es am Hinterkopf hochgesteckt mit einem roten Band. Dieses Band und ihre kurzen, blutrot lackierten Fingernägel bildeten die einzigen Farbtupfen an ihrem Körper. Auch die blitzartig aufleuchtenden Augen waren dunkel, doch der Blick blieb gespenstisch fern: Die Tänzerin verdrehte die Augen, so daß ihre Pupillen völlig verschwanden und nur der Augapfel unter den flatternden Lidern schimmerte. Jetzt ging sie in die Knie, anmutig, bedächtig, kauerte auf den Steinen. Als sie sich plötzlich auf den Rücken warf, lief ein leises Raunen durch die Menge. Die Zuschauer begannen zu drängen und zu schieben, um besser zu sehen. Die Tänzerin lag, auf Hinterkopf und Gesäß gestützt, nur die Arme und Schultern bewegten sich, während die gestreckten Beine eine Handbreit über den Boden schwebten. Die Kälte schien ihr nichts auszumachen. Ihre Bewegungen, langsam und schlan-gengleich, gingen allmählich in Zuckungen über. Sie wirkte wie ein Klumpen Materie, der gegen eine starke Druckwelle kämpft, sich löst, wieder zurückfällt. Jedes Schütteln und Beben der Gliedmaßen ließ unter der mattweißen Haut lange, feine Muskeln hervortreten, die geschmeidig und doch von äußerster Stärke waren. Schlagartig wurde mir klar, daß der Rhythmus ihrer Bewegungen dem Plätschern und Tropfen des Brunnenwassers folgte. Ihre Körperbeherrschung war unglaublich, außergewöhnlich. Nur eine Berufstänzerin, die gleichsam über das Können einer Athletin verfügte, war zu einer solchen Leistung fähig. Und während sie den Kampf gegen die Schwerkraft mimte, sich mit unendlicher Mühe – wie es schien
– endlich aufrichtete, zeigte sie eine mächtige, unbesiegbare Kraft: die Lebenskraft der sich drehenden Schlange, die ihr verbrauchtes Winterkleid abwirft, ihren muskulösen Leib zum Licht emporhebt. Ich sah die
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