Seidentanz
Trümmerhaufen flackerten über den Bildschirm, eingestürzte Hochhäuser, ganze Stadtteile, dem Erdboden gleichgemacht. Einzelheiten waren nur unscharf zu erkennen.
Dicke, schwarze Brandwolken türmten sich über der Stadt. Die Zahl der Toten und Verwundeten, sagte die Moderatorin mit ruhiger Stimme, werde auf über Tausend geschätzt, aber genaue Zahlen lägen noch nicht vor. Für die Obdachlosen seien Notunterkünfte vorgesehen.
Eine Zeitlang starrten wir auf den Bildschirm. Entsetzen lähmte uns. Wir konnten einfach nicht glauben, was wir sahen und hörten.
»Ungeheuerlich!« flüsterte Kunio.
Irgendwer schluchzte leise; das Schluchzen ging mir durch Mark und Bein; es war mein eigenes. Ich kann es nicht aushalten, dachte ich, es ist unerträglich, es erstickt mich. Mit dieser Katastrophe war ich schwanger gewesen, ich hatte sie im Blut gefühlt, jede Zelle meines Körpers hatte davon gebebt; ich mußte die unmerklichen Erschütterungen gespürt haben, die das Gestein knistern ließen, schon seit Monaten; Bewegungen, Energiewellen, die nur von empfindlichen Apparaten registriert wurden. Mein Organismus hatte gespürt, wie sich die Kräfte im Untergrund zusammenballten, ich hatte sie in geistigen Bildern, in Gefühle und schließlich in Schmerzen umgesetzt. Mit einem Mal war ich wie besessen; die Furcht stieg aus den tiefen Schichten des Unbewußten wie dunkler Frost aus der winterli-chen Erde. Es war eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, daß ich diesen Horror spüren mußte, bevor er eintraf, eine alp-traumhafte Widerwärtigkeit. Nur ruhig, dachte ich. Verliere die Nerven nicht, Ruth. Es nützt dir nichts, wenn du schreist oder tobst. Entweder siehst du die Dinge sachlich, oder du landest im »Wacholderhaus«. So bezwang ich mich, obwohl Panik mich schüttelte, und spürte endlich, daß ich reden konnte. Doch zuerst nahm ich Kunios Hände und hielt sie fest in den meinen; er schien mich wieder mit mir zu vereinen.
»Kunio, wir müssen nach Kobe.«
»Naomi?« stieß er hervor.
Ich nickte mit zugeschnürter Kehle. Es gab Gefühle und Gedanken, die ich verdrängte. Was ich sagen wollte, war entsetzlich. Ich sagte es lieber nicht. Sobald ich das Grauen mit Namen nannte, würde es Gestalt annehmen.
»Sie wird alles verloren haben.«
»Holzhäuser fallen in sich zusammen«, sagte er. »Aber die Bewohner kommen fast immer ohne schlimme Verletzungen davon.«
Er durchschaute meine Befürchtungen, war bestrebt, mich zu beruhigen. Ich widersprach ihm nicht, setzte meine Angst unter Narkose.
»Sie braucht Hilfe.«
»Am besten, wir holen sie zu uns. Sie kann mit ihrer Mutter und Seiji bei Hanako wohnen. Bis das Haus wieder steht, vergehen Monate.«
»Wir müssen ihr Sachen bringen: Verbandszeug, Decken, warme Kleider, Handschuhe.«
»Und Wasser«, sagte er. »Es gibt kein Wasser mehr in Kobe.
Und auch keine Heizung, keinen Strom. «
»Und Schlafsäcke, für alle Fälle.«
»Und Taschenlampen.«
Wir hielten den Blick auf den Bildschirm gerichtet. Bilder des Grauens zogen vorbei: zugedeckte Leichen, in einer Halle aufgebahrt, zitternde Obdachlose. Rettungsmannschaften verteilten Decken. Alle Gesichter waren wie erstarrt. Kein Weinen, kein Schreien. Nur Stille und das gespenstische Knattern der Hubschrauber, das Heulen der Feuerwehrsirenen. Doch Kunios Hände, stark und fest, waren warm in meinen Händen, und seine Stimme klang ruhig:
»Die Hanshin-Autobahn ist eingestürzt, die Bahnlinien auch.
Die Nationalstraße führt nur bis in die Vororte. Wir müssen zu Fuß gehen. «
»Das macht nichts«, flüsterte ich, schwer atmend.
Er stellte den Fernseher ab.
»Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.«
53. Kapitel
D ie Luft war eiskalt, der Himmel hinter den Rauchschwaden blau; eine endlose Kolonne müder, verstörter Menschen bewegte sich entlang der Bahngleise: Tausende von Obdachlosen, mit Habseligkeiten bepackt, junge und ältere, Kinder und Greise. Verletzte, die noch gehen konnten, wurden von ihren Angehörigen gestützt. Sie flohen aus der zerstörten Stadt, suchten Unterkunft bei Freunden und Verwandten in den Vororten.
Das gespenstische Heulen der Sirenen erfüllte das Talbecken.
Knatternde Hubschrauber zogen ihre Runden, doch hier, am Bahngleis, brach nur das Geräusch der Schritte, verhaltenes Gemurmel oder gelegentliches Schluchzen die Stille. Die Flüchtlinge schonten ihre Kräfte: Vor ihnen lag eine Strecke von über zwanzig Kilometern zu Fuß. Der Weg aus der Stadt führte teilweise als
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