Seidentanz
Trampelpfad über Trümmer und Geröll.
Fahrräder waren nur streckenweise zu gebrauchen. Die Flüchtlinge stapften an riesigen, noch knarrenden Schuttmassen vorbei, an Betonbrocken, an tropfenden Rohren und gefrorenen Wasserlachen. Sie wanderten an Fernsehapparaten, Schränken, Schubladen, Computern, zerfledderten Büchern, Bettwäsche, eingedrückten Autos vorbei. Leichen waren nicht zu sehen; vielleicht hatte man sie schon geborgen. Auf der Nationalstraße zwischen Osaka und Kobe stauten sich kilometerlang Privat-wagen, Ambulanzen, LKWs, Busse und Motorräder. Sie gehörten Auswärtigen, die in entgegengesetzter Richtung wanderten.
Die meisten hatten Freunde und Verwandte in Kobe, die auf ihre Hilfe angewiesen waren. In Rucksäcken und Taschen schleppten sie Kleider, Obst, Medikamente und Decken. Manche schoben unter großer Mühe Rollstühle oder Einkaufswagen vor sich her, die mit Medikamenten, Lebensmitteln, Getränken bepackt waren. Alle Telefonlinien waren zerstört, doch vielen war es gelungen, mit Angehörigen und Freunden durch Handys in Kontakt zu treten. Rettungsmannschaften waren an der Arbeit, machten sich durch Rufe und Klopfen bemerkbar. Da und dort wurde fieberhaft gegraben. Manchmal erschollen Warn-schreie: Die Mannschaften brachten sich in Sicherheit, während Haufen von Trümmern und Betonbrocken mit ohrenbetäubendem Krachen einstürzten. Kunio und ich hatten Stunden im Verkehrsstau verbracht, bis die Polizei uns aufhielt. Ein paar hundert Meter weiter war die Stelzenautobahn zusammenge-brochen. Die Betonpfeiler waren umgekippt, die Autobahn, eingedrückt wie Wellblech, lag streckenweise auf der Seite.
Autowracks waren unter den Trümmern zermalmt. Die Polizei teilte Helme aus. Die Kontrollen waren auf ein Minimum reduziert, alle, die Lebensmittel und Kleider für die Notleidenden brachten, wurden durchgelassen. Tintenschwarzer oder gelblicher Rauch lag über der verwüsteten Stadt: Brände, die nicht gelöscht werden konnten, weil die Wasserleitungen geplatzt waren. Sieben- oder achtstöckige Betonklötze lagen auf der Straße, aus den Fundamenten gerissen, wie umgekippte Papp-schachteln. Kein Fenster, das nicht sämtliche Scheiben verloren hatte. Wie eine berstende Kruste war der Boden mit Rissen durchzogen. Immer wieder traf man Gruppen von Menschen, in Decken gehüllt. Viele trugen noch Nachtkleider; ihre bloßen Füße steckten in Pantoffeln. Das Beben hatte um 5 Uhr 46
eingesetzt, und die Bewohner von Kobe im Schlaf überrascht.
Die Obdachlosen standen unbeweglich in der beißenden Kälte, hauchten in ihre blaugefrorenen Hände und starrten vor sich hin, wie in etwas, das sie noch nicht gesehen hatten. Die Luft stank nach Gas, nach Qualm, nach verbranntem Plastik; ein ekelhafter Geruch, der zunahm, je näher wir dem Stadtzentrum kamen. Straßenteile waren abgesackt, Bäume entwurzelt, Ei-senträger eingeknickt. Immer wieder wurden durch Lautsprecher Warnungen durchgegeben: kein Feuer anzünden, sich nicht unter überhängenden Betonbrocken aufhalten. Was mich am meisten verblüffte, mir fast das Herz brach, war die ungeheure Ruhe der Japaner. Die Menschen halfen einander, höflich, geschickt, ohne Panik oder Hysterie. Wo Wasserrohre sprudelten, bildeten die Leute eine Kette und reichten sich Eimer voll Wasser weiter, andere brachten Schubkarren voller Sand herbei und bekämpften damit die Flammen. Der Rauch wirbelte in Schwaden hoch. Die Leute husteten und würgten.
Viele hatten sich ein Tuch vor Mund und Nase gebunden. An freien Stellen waren die weißen Zelte der Erste-Hilfe-Stationen eingerichtet. Dort konnten sich Leichtverletzte verbinden lassen; man identifizierte Tote und gab die Namen der Vermißten an. Freiwillige verteilten Nahrungsmittel und Getränke.
Manchmal legte sich eisige Erstarrung über die Menge: Das Rumpeln und Knirschen der Nachbeben hallte alptraumhaft bis an die Berghänge. Gelockerte Steinblöcke rumpelten und don-nerten. Fassaden stürzten ein, Dächer gaben nach. Der Asphalt bewegte sich, platzte auf, als ob die Erde darunter etwas Lebendiges war. Einmal krachte ein paar Meter vor uns ein Klumpen Stahlbeton aus einem zerstörten Hochhaus. Der Luft-druck blies uns Staub und Ruß in die Augen. Man sah die auf-gerissenen Zimmer und umgefallenen Möbel, Matratzen und Bettzeug, die über zerbrochenen Baikonen hingen. Wir warteten, angstgepeinigt, bis sich das Beben beruhigte. Dann machten wir uns wieder auf den Weg. Einmal sahen wir eine alte Frau, die mit
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