Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
Vom Netzwerk:
Befreundetsein mit allen Dingen, die mich wie eine stärkende Lebensluft umfangen hielt. Die Bäume standen am Himmel wie große grüne Wolken, und darunter leuchtete korallenrot der Schrein. Hatte ich je etwas Schöneres gesehen?
    Nein, so glaubte ich. Auf ganz eigentümliche Weise war das Heiligtum schön, so, als sei es schon immer dort gewesen.
    Warum? Vielleicht, weil die Erbauer ein so großes Einverneh-men, eine so große Erfahrung mit der Natur hatten, daß sie diese Harmonie genau getroffen hatten. Anders konnte ich es nicht erklären. Unwillkürlich lenkte ich meine Schritte auf das Heiligtum zu. Vor dem Bauwerk blieben wir stehen. Tauben gurrten, und aus dem Helldunkel drang Kühle; das war sehr beruhigend. Der Priester stand neben mir. Seine hohe Gestalt warf, einer Säule gleich, einen langen Schatten in der Sonne.
    Nach einer Weile seufzte ich entspannt auf.
    »Wie schön der Schrein ist! «
    Er sah mich an, lebhaft und sehr glücklich, als ob meine Bemerkung seinen eigenen Gedanken entsprochen hätte.
    »Nicht wahr? Ich bin froh, daß du endlich bemerkst, wie schön unser Schrein ist. «
    »Er sieht so lebendig aus.«
    Er nickte.
    »Das ist er auch. Es gibt im Schrein weder Draußen noch Drinnen. Er ist eine Verflechtung von Mensch und Natur, die Verbindung zu jener Kraft, die man üblicherweise als Gott bezeichnet.«
    Er schob gemächlich beide Hände in die Ärmel, wie die Priester es taten.
    »Soviel ich weiß, gibt es nichts in unseren Schreinen, das nicht irgendeinem Zweck dient; doch alles, was man sieht, sind Symbole. Mir gefällt es, den Schrein mit einem menschlichen Körper zu vergleichen. Das Gebälk ist der Knochenbau; die Architektur entspricht den Muskeln und der äußere Verputz der Haut.«
    »Und das Herz?« fragte ich.
    Er warf mir einen tiefen Blick zu.
    »Das Herz ist die Frau. Genauer gesagt, das weibliche Prinzip. Die Sonnengöttin – Atnaterasu omikami – steht über allen anderen Gottheiten, den irdischen und den himmlischen.«
    Ich lächelte flüchtig.
    »Ich sehe nur einen Spiegel.«
    »Der Spiegel – Kagatni – ist ihr Auge und reflektiert die Welt. Ich bin ein Priester, aber ich bin nur ein Mann und stoße an meine Grenzen. Die Begegnung mit der Gottheit ist der Frau vorbehalten.«
    Er blinzelte mir verschmitzt zu, doch ich merkte, daß es ihm ernst dabei war. An dergleichen hatte ich nicht gedacht. Ist es das, was hier anders ist? überlegte ich. Ich entsann mich an die Vertrautheit, die ich empfunden hatte, als ich den Fuß auf japanische Erde gesetzt hatte. Ich hatte geglaubt, es wäre so, weil es neu und amüsant war. Das war es aber nicht. Vielleicht hatte ich hier etwas gefunden, das dem ähnelte, was ich ersehnte.
    Aber was wurde von mir als Gegengabe verlangt? Ich antwortete ruhig:
    »In den meisten von uns sind zwei Naturen. Wenn ich eine Männermaske aufsetze, bin ich ein Mann. «
    Ein tiefer Sonnenstrahl traf sein Gesicht; das widerspiegelnde Licht veränderte seine Züge. Er lächelte immer noch, aber mit ernsten Augen.
    »Du kannst erkennen, was das heißt. Sagon erzählte mir, daß du den Ranryô-ô spielen wirst. Wie denkst du darüber, Ruth?«
    Ein kurzer Angstschauer fuhr mir durchs Herz; gleich folgte ein Gefühl von Trotz. Wenn man mit zwölf gelernt hat, auf einer Bühne Ruhe zu bewahren, so wird man das nie vergessen.
    »Es ist ja alles nur ein Tanz«, sagte ich, betont gleichgültig.
    Er wölbte die Brauen.
    »Aber natürlich. Die Schöpfung selbst ist ein Tanz.« Etwas kroch an mir hinauf, von den Füßen bis zum Herzen, und flatterte dort wie Schwingen. In meinem Magen wurde es plötzlich kalt. Das Zittern wuchs, und um es zu unterdrücken, verschränkte ich fest die Arme. Bei gewissen Dingen wollte ich lieber auf Distanz bleiben.
    »Man kann nicht in solchem Maße verstehen.«
    Er lächelte wiederum, mit großer Offenheit und Wärme.
    »Was ist denn daran so schwer?«
    15. Kapitel
    I ch kniete im Trikot im Übungsraum und hörte zu, was Sagon mir zu sagen hatte. Tänzerinnen, die sich in ein Ensemble einordnen müssen, sind Erklärungen gewohnt. Jeder Lehrer gibt eine Einleitung in seine Arbeit, sozusagen einen Kurzun-terricht in der Methode. Doch Sagon hielt sich nicht an die übliche Art, sondern sprach von den Elementen des Bugaku, von seinen Konventionen, Themen und Motiven. Mit den mir bisher bekannten hatten sie keine Ähnlichkeit. Sagon war an diesem Abend ganz in Weiß gekleidet, und die rituelle Schlichtheit seines Gewandes verlieh seiner

Weitere Kostenlose Bücher