Seidentanz
Zähne leuchteten hinter den weichen Lippen. »Hab Geduld, Ruth-San. Der Vogel überfliegt den Weg, aber die Ameise kennt ihn, das ist der Unterschied.«
Ich überreichte ihm das Geschenk.
»Gemessen an dem, was Sie für mich getan haben, ist es nur eine Kleinigkeit.«
Er steckte schwungvoll den Spaten in die Erde, bevor er die Schachtel mit einer tiefen, sehr zeremoniellen Verbeugung entgegenahm, die auf deutliche Weise auch Zärtlichkeit ausdrückte. Durch das Erlernen der Entstehung einer Bewegung werden Tänzer geschult, auf Instinkte und Gefühle zu achten.
Worte sagen dieses oder jenes, aber die Sprache der Bewegungen bringt tiefere Empfindungen ans Licht. Sie sind ein Flü-
stern von Herz zu Herz.
»Übrigens hat Sagon Mori angerufen«, nahm der Priester das Gespräch wieder auf. »Er ist von deinem Können beeindruckt.«
»Ich habe ja nur vorgetanzt. Heute abend unterrichtet er mich zum ersten Mal. Ich weiß nicht, was mich dabei erwartet.«
»Nichts zu wissen, ist besser«, sagte Daisuke. »Vorgefaßte Meinungen müssen beseitigt werden, bevor man empfänglich für Neues wird. Diese Arbeit kann man sich sparen.«
»Das finde ich auch.«
Er warf den Kopf zurück und lächelte; sein jugendliches Lä-
cheln war ganz bezaubernd. Dann wurde sein Gesicht plötzlich ernst.
»Naomi?« fragte er in knappem Tonfall.
»Sie ist nach Tokio gegangen.«
Schlagartig veränderte sich sein Ausdruck. Er verzog die Mundwinkel nach unten.
»Hat sie nichts gesagt?«
Ich schüttelte den Kopf.
»In der Schweiz hat sie angefangen, dieses und jenes zu er-zählen. Aber hier in Japan, nein, nichts mehr. Ich habe auch nicht versucht, mehr zu erfahren.«
Ein Seufzer hob seine Brust.
»Sie ist eine ungewöhnliche Frau. Und Keita ein ungewöhnlicher Mann. Aber sie kann nicht bei ihm sein, ohne sich zu zerstören und damit auch ihn…« Es klang, als ob er zu sich selbst sprach. Ich faßte mich an den Kopf und spürte etwas in meinem Haar. Es war eine Biene, die sich dort verfangen hatte.
Ich befreite sie behutsam, ohne daß ich gestochen wurde.
»Sie wollte nicht, daß ich mit ihr zum Bahnhof ging. Als der Bus abfuhr, habe ich – das muß ich Ihnen sagen –, habe ich erbrochen. Ich habe mich schon manchmal übergeben, aber aus anderen Gründen als diesem. Immer aus anderen Gründen, verstehen Sie? Ich war nicht krank, keine Spur. Aber der Magen kam mir hoch, als ich ihre Hand sah.«
Er runzelte die glänzenden Brauen.
»Ihre Hand?«
»Immer, wenn ich ihre Hand sah, hatte ich Lust, mich zu übergeben. «
»Welche Hand, Ruth? Die rechte oder die linke?«
Ich versuchte, mich zu erinnern.
»Ich glaube, die linke. Und wenn ich ihre roten Nägel sah, dachte ich an Blutstropfen. Jedesmal. Finden Sie das nicht merkwürdig?«
Er nickte langsam vor sich hin. Ich hatte nicht einmal den Eindruck, daß er sehr überrascht war. Seine Augen schimmerten traumbefangen und düster.
»Doch, Ruth, das finde ich sehr merkwürdig.«
Sekundenlang starrte er mich an, doch in Wirklichkeit dachte er durch mich hindurch, abwesend und gramvoll. Schließlich brach ich mit einem tiefen Atemzug das Schweigen.
»Womit das zusammenhängt, das kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Nein, natürlich nicht. Und auch von mir kannst du keine Antwort erwarten. Wieviel lernen Menschen in einem Men-schenalter?«
Eine Krähe hüpfte unter den Büschen hervor, suchte Insekten in der lockeren Erde. Der Priester fand plötzlich aus seinem Wachtraum zurück. Er straffte sich, falls man das von einem Mann sagen kann, der sich kerzengerade hält.
»Arbeitest du im Garten, Ruth?«
»Ich nicht. Aber meine Mutter.«
Er fuhr mit seinem muskulösen Arm über die schweißnasse Stirn.
»Eines Tages solltest du dir einen Garten anschaffen. Das wird dir Frieden schenken.«
Er bat mich, die Teeschachtel einen Augenblick für ihn zu halten, während er den Spaten in einen Schuppen brachte und das Unkraut in einen Plastiksack stopfte. Am Schuppen war eine Pumpe angebracht. Der Priester wusch sich Hände und Gesicht über einem Plastikbehälter, trocknete sich mit einem kleinen Handtuch ab. Er schüttelte sein Haar, in dem Wassertropfen funkelten, und lächelte mich an, wieder ganz heiter. Die Sonne sank. Nur das Krächzen der Raben, das Knirschen unserer Schritte im Kies brach die Stille. Ich dachte über die Worte des Priesters nach – schaff dir einen Garten an, Ruth – und spürte auf einmal die süße und wohltuende Vertraulichkeit in der Natur, ein
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