Seidentanz
nicht anwendbar. Ich mußte bei Null anfangen, alles vergessen, was vorher dagewesen war. Nicht denken, Ruth. Dein verflixtes Gehirn ausschal-ten. Der Gesang kann dich leiten…
Sagons Stimme stieg und sank, stieg höher, sank tiefer; sie webte eine Brücke, auf der ich emporwanderte, den schlafenden Göttern entgegen. Ich schwebte auf dieser Brücke wie ein Insekt, das sich auf einem Faden in wechselnde Luftzonen schwingt, und sah in einer Schattenhaut die Sterne kreisen.
Manche Menschen vermögen alte Formen und Gedanken durch Jahrtausende weiterzugeben. In ihnen leben Rituale aus der Vorwelt. Sagon Mori kannte den Zauber. Ich vertraute mich ihm an. Rückhaltlos. Er würde mich zu den Ursprüngen führen, zu dem verborgenen Kraftkern in mir. Eine Art Ekstase durchflutete mich; da fühlte ich einen heftigen Stoß, ein Schaudern.
Die Stimme erlosch wie ein berückender Traum, aus dem man zu einem neuen Tag erwacht. Der Faden, auf dem meine Seele balancierte, war gerissen. Der Schock ließ mich taumeln, der Schweiß lief mir am ganzen Körper herunter. Sagon kniete in aufrechter Haltung auf der Matte. Sein Gesicht war unergründlich. Die Schiebetür stand auf; Aiko war verschwunden. Ich hatte einen Blutdruck von bestimmt zweihundertfünfundvierzig, konnte mich nicht mehr auf den Beinen halten und setzte mich, genauer gesagt, ich sank auf die Matte. Eine Zeitlang waren meine keuchenden Atemzüge das einzige Geräusch in der Stille, bis der Priester mit ruhiger Stimme das Schweigen brach.
»Das genügt für heute. Du siehst ja selbst, wo die Schwierigkeit liegt. «
Der Ton seiner Stimme gab mich dem Gefühl der Realität und der Gegenwart zurück, doch nur halb. Mein Atem flog. Ich schmeckte die salzigen Schweißtropfen an meinen Mundwinkeln. Endlich konnte ich sprechen. Ich sagte:
»Ich dachte nicht, daß es so schwer sein würde…«
Er beugte sich leicht nach vorn, die Hände auf den Oberschenkeln.
»Du beherrschst den Rhythmus gut. Was du nicht beherrschst, ist die Form. Du mußt die Form wahren, Ruth. Das ist ganz ungemein wichtig. Die meisten Menschen haben das Problem in umgekehrter Richtung. Sie lernen die Form mit Akribie und vergessen den Geist. Die Form, Ruth! Es geht um die Form!« betonte er mehrmals, mit großem Nachdruck, wobei er mit der Faust auf seine kräftigen Schenkel schlug.
Aiko kam zurück und brachte ein Tablett. Der körnige grüne Tee schäumte in den Schalen. Heiße Frotteetücher lagen für alle bereit. Wir tupften uns den Schweiß von Gesicht und Armen. Erst jetzt fiel mir auf, wie müde Sagon und Aiko aussa-hen. Der Unterricht mußte sie viel Kraft gekostet haben. An-gewidert dachte ich an meine Leistung, die nach meiner Überzeugung von Anfang bis Ende schlecht gewesen war.
»Gomennasai!« murmelte ich kleinlaut. »So geht es nicht.«
»Und warum nicht?« knurrte Sagon.
»Ich war lausig.«
Jetzt schmunzelten beide nachsichtig, um nicht zu sagen amüsiert, was mich noch betroffener machte. Aikos rosiges Gesicht glänzte im Licht, während sie mir mit großem Mitgefühl widersprach.
»Das ist nicht schlimm, Ruth. Wirklich nicht! Dein Körper regt sich auf, das ist ganz normal. Er beschwert sich, er schmerzt. Er möchte am liebsten davonlaufen. Du mußt freundlich und streng zu ihm sein, ihn trainieren wie einen jungen Hund.« Sagon nickte mit zustimmendem Brummton. Der Vergleich mit dem Welpen traf zu. Ich dachte, hier wirst du noch dein blaues Wunder erleben.
»Bugaku ist keine unfertige Struktur«, sagte der Priester.
»Bugaku ist längst da und sollte bloß reproduziert werden. Wir wollen mehr: Wir wollen Bugaku zum Leben erwecken. Das kostet viel Kraft. Und auch viel Geduld.« Er wedelte mit der Hand. »Trink deinen Tee jetzt. Und beruhige dich.«
Ich sah ihm ins Gesicht; diesmal barg es kein Geheimnis. Für jemanden wie mich war es ein offenes Gesicht, in dem ich jede Regung las. Beide gaben sich große Mühe, mich aufzumuntern und brachten es irgendwie sogar fertig. Dabei fühlte ich mich gerührt und zugleich beschämt. Die ganze Zeit hindurch war mir, als wäre ich schlafgewandelt und entdeckte erst jetzt, wo ich war und was von mir verlangt wurde. Ich dachte: So fühlt man sich, wenn man schlecht tanzt. Nun, ich selbst war daran schuld, das würde sich bald ändern. Ich trank die Schale leer und dankte Aiko, die mir verschmitzt zublinzelte.
»Schmeckt dir der Tee?«
Ich lächelte sie an.
»Der beste Tee, den ich je getrunken habe!«
Die Wirkung spürte ich
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