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Sein letzter Burgunder

Sein letzter Burgunder

Titel: Sein letzter Burgunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grote
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zwischen dem Osten und dem Westen und im Verhältnis zu den Migranten: sie nicht zu mögen, aber es nicht zugeben zu dürfen; zerrissen oder desinteressiert auch im Verhältnis der Geschlechter zueinander. Und die soziale Zerrissenheit wurde größer. Er sah sie, wenn er alle Jahre nach Deutschland reiste, in miesepetrigen Gesichtern, in den Parolen an den Wänden, er sah die Graffitis und die Gesichter der Menschen in der Straßenbahn. Friedrich Hölderlin kam ihm in den Sinn und was er im »Hyperion« über seine Landsleute geschrieben hatte: »diese allberechnenden Barbaren«   – das war hart, sehr hart, aber deshalb nicht falsch. Den »Hyperion« hatte er erst in Spanien in die Hände bekommen. »Ich kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen   … dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes   …«
     
    Von Zerrissenheit war am nächsten Tag nichts zu bemerken, als er seine Recherche auf dem Weingut Stigler in Ihringen begann. Das Gut lag an der Hauptstraße des belebten Dorfes, bunt, hell und lebendig, am südwestlichen Rand des Kaiserstuhls. Der Morgen war klar, die Sonne schien sanft, es würde ein schöner Tag werden, wenn da nicht die verdammten Drohbriefe wären, der dritte war eingetroffen, wieder mit einem anderen Absender. Da wollte jemand Vielseitigkeit demonstrieren oder falsche Spuren legen? Doch die Sorge um Isabella musste Henry beiseiteschieben, er hatte sich auf seine Gastgeber und ihre Weine einzustellen, was ihm bei ihrem entgegenkommenden Wesen auch leicht gelang.
    Er fühlte sich in dem gepflasterten Hof zwar nicht wie zu Hause, aber doch dazugehörig. Die einstöckigen Gebäude waren teilweise mit Wein überrankt, davor standen die üblichenDrahtcontainer für Flaschen neben einem Stapel Paletten. Frau Stigler bat ihn auf die Veranda, von da aus hatte man sowohl den Hof im Blick, wo der Winzer ab und zu auftauchte, wie auch das kleine Büro, in dem alle fünf Minuten ein Telefon klingelte. Der Winzer hatte zu tun, aber seine Frau war auch bestens im Bilde, es gab nicht eine Frage, die sie nicht beantwortete.
    Die Stiglers betrieben das Weingut in der dritten Generation. Früher mal war es eine Bahnhofsgaststätte gewesen und später eine Posthalterei. Mit fünf Hektar hatte der Weinbau begonnen, heute wurden zwölf Hektar in fünf Einzellagen bewirtschaftet. Vor der großflächigen Flurbereinigung, bei der von staatlicher Seite der gesamte Kaiserstuhl umgegraben und ihm sein ursprüngliches Gesicht genommen worden war, waren es fünfundzwanzig gewesen.
    Am Ihringer Winklerberg und dem Schlossberg besaßen sie zwei Spitzenlagen mit stark kalkhaltigem Vulkanverwitterungsboden. Damit gab es ähnliche und doch andere Voraussetzungen wie bei den großen französischen Pinot Noirs der Côte de Beaune   – mit Mergel und Kalk. Stiglers Chenin Blanc, Silvaner und Sauvignon Blanc interessierten Henry nicht so sehr. Auch der Riesling vom Winklerberg, dieser extrem sonnigen Lage, hätte ihn nur abgelenkt und ihn beim Vergleich von Weiß-, Grau- und Spätburgunder durcheinandergebracht. Auf die hatte er sich zu konzentrieren.
    Der Weißburgunder Kabinett vom Winklerberg war angenehm im Duft, nicht übertrieben, nicht zu dezent, moderat in der Säure und erinnerte an den Duft weißer Blüten. Die Spätlese derselben Lage und desselben Jahres war blumiger, stärker im Parfüm, weich, diskret, und der Geschmack blieb lange im Mund. Beim trockenen Großen Gewächs dann, das noch Zeit brauchen würde, um seine Größe zu zeigen, wurde die Besonderheit des Terroirs am deutlichsten, denn hier verband sich Üppigkeit mit Mineralität. Ein wenig erdigwirkte sie, leicht kräuterhaft, und die Erinnerung an feinstes Salz entstand.
    Viel kräftiger kamen die Grauburgunder daher. Henry begann mit dem jüngsten, einem Kabinettwein. Sein Aroma erinnerte an Aprikose, dabei sollte er   – je nach Ausbaumethode   – nach Birne, Ananas oder Zitrusfrüchten duften, nach Trockenobst oder Rosinen. Mehr als fünf unterschiedliche Komponenten konnte der Mensch sowieso nicht im Wein wahrnehmen, also was nutzte so ein Fruchtsalat? Für ihn war es Aprikose. Punkt! Wichtig war ihm, dass der Wein eine Gestalt hatte, kompakt war und klar. Die Spätlese des Vorjahres kam von der Lage in Oberrotweil. Sie war zwar würzig, blieb trotzdem filigran, hier zeigte sich stärker das Kräuterhafte. Das Große Gewächs machte seinem Namen mal wieder Ehre in puncto Dichte, einer die

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