Sein letzter Burgunder
fertigen Weine im Keller?«, fragte er.
Der Fahrer nickte. »Wirklich alles. Sehr großzügig, nicht wahr?«
Dann war der Spätburgunder, der Henry so gut gefallen hatte, tatsächlich noch unter der Ägide des ehemaligenWinzers entstanden. »Und was ist mit den anderen Mitarbeitern? Die junge Dame sagte, Sie seien als Einziger geblieben.«
Jetzt grinste der Fahrer. »Ja, ich hab dem Weingut die Treue gehalten, und Herrn Johansen. Er is ein hochanständiger Mensch, sehr gut erzogen. Er hat allen großzügige Angebote gemacht, wollte alle übernehmen, aber die Doppeldudel hier aus dem Kaiserstuhl – ich bin nicht von hier – wollt’n nich. Selbst schuld! So, ich mach Feierabend.«
Keinem kann man trauen, dachte Henry, alle spielen ihre Rollen. Welche spielte der Fahrer? Er fragte noch mal nach Templin: »Wo finde ich ihn?«
Der Winzer saß in einer Ecke der »Sonne« und stierte in ein Glas Wein, als wäre darin die Wahrheit verborgen. Jürgen Templin, Kenner des Kaiserstuhls, ein Winzer auf dem Weg zum Künstler, dem die Qualität seines Weins mehr am Herzen lag als der Umsatz. Er hatte sich als angenehmer Chef gezeigt und als freundlicher Zeitgenosse, jemand, der erklären konnte und es auch gern tat. Und heute?
Vor Henry saß ein gebrochener Mann. Jemanden, auf den das so bildlich zutraf, hatte er selten vor sich gehabt, gestrandet, auf dem Weg zu einem menschlichen Wrack. Sein Blick aus wässrigen Augen war müde und verzweifelt, fassungslos und hilflos, aber keineswegs hilfesuchend. Auch im Körper steckte noch eine gewisse Spannung, und äußerlich wahrte er die Form, wirkte gepflegt in Anzug und Krawatte, nur mischte sich in den Duft seines Rasierwassers ganz leicht der unangenehme Geruch eines Alkoholikers. Henry merkte es, als er sich zu ihm setzte. Hatte Templin bereits ein Stadium erreicht, in dem er seinen Zustand nicht mehr versteckte und es ihm gleichgültig war?
In der dunklen Ecke der Gaststube hatte er den Winzer kaum erkannt. Wenn das Letzte, was starb, die Hoffnung war, wieso war Jürgen Templin noch am Leben, dieser Ertrinkende,der den Eindruck erweckte, dass er nicht mehr nach einem Strohhalm suchte? Henry empfand Mitleid und spürte den Wunsch, ihn zur Sierra de Cantabria nach La Rioja mitzunehmen, ihn dort oben mit dem Vierzig-Kilometer-Blick in die Sonne zu stellen, ihm eine Schere oder eine Hacke in die Hand zu drücken und ihm einen Weinberg anzuvertrauen. Oder die
compañeros
der Kooperative von Lagar würden auf ihn aufpassen. Und gleichzeitig wusste Henry, dass alles Bemühen der Sucht gegenüber zwecklos war, solange die eigene Lebensflamme nicht aufflackerte, solange die Verzweiflung lähmte und es keinen Grund gab, sich nicht zu betrinken, solange man nicht auf den Morgen wartete und die Sonne aufgehen sehen wollte.
Es schien Jürgen Templin gleichgültig, dass Henry sich zu ihm setzte. Dass er lediglich seinen Namen sagte und woher er kam und danach schwieg, brachte Templin durcheinander, aber noch nicht zum Reden.
»Erinnern Sie sich an mich?«, fragte Henry nach einer unangenehm langen Stille und meinte, doch eine gewisse Verlegenheit bei seinem Gegenüber zu spüren.
Jürgen Templin brummte nur, Zustimmung und Ablehnung in einem. »Ich kenne Sie. Was wollen Sie?«
»Ich brauche Ihre Hilfe. Sie kennen sich am Kaiserstuhl aus. Es ist zwar lange her, aber das war mein Eindruck, als ich bei Ihnen war. Deshalb bin ich hier. Dann will ich wissen, was passiert ist, was Ihnen passiert ist. Ich habe Sie im Weinberg erlebt, Sie haben mich mitgenommen, da haben Sie mir begeistert von Ihren Weinen wie auch von Ihren Plänen erzählt. Wir haben anschließend mit Ihrer Frau und Ihrem Sohn zu Mittag gegessen.«
»Das ist lange her. Die Reise hätten Sie sich sparen können.«
»Wenn Sie mir nicht helfen wollen, dann sagen Sie mir, an wen ich mich wenden soll. Sagen Sie mir, welche Winzer wichtig sind, welche Genossenschaften und wo das Probierenlohnt. Ich suche nicht den Durchschnitt, davon haben wir in Spanien genug. Ich suche die Spitze.«
Vielleicht war das ein Weg, an ihn heranzukommen. Templin hatte zur Spitzenklasse gehört, war seinem Vater gefolgt, einem jener »Weingrünen«, die sich zu Zeiten, als süße Weine gefragt waren, mit anderen am Kaiserstuhl gegen den Trend gestellt hatten. Während viele Betriebe wie Genossenschaften ihre Weine weiter mit Mostkonzentrat süßten, war er seiner Linie treu geblieben. Er hatte auf trockene Weine gesetzt, durchgegoren
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