Sein mit Leib und Seele Band 10
der beeindruckenden Bibliothek dringt klassische Musik. Eine junge Frau serviert Tee und Gebäck. Ich hole mein MP3-Aufnahmegerät hervor und lege es auf den Couchtisch. Ihr Mann, in Tweed gekleidet, ist kurz darauf bei uns. Ich spule ein paar Komplimente und Belanglosigkeiten ab.
„Erzählen Sie mir von Ihrer Tochter. Sie litt unter einem posttraumatischen Schock, ist das richtig?“
„Deshalb wurde sie das letzte Mal eingewiesen … Also, das ist das, was in der Akte stand.“
„Was wollen Sie damit sagen?“
„Ich weiß, dass man irgendetwas schreiben muss, es benennen muss. Aber eine seelische Krankheit lässt sich nicht auf eine präzise Krankheit beschränken. Nun, da sage ich Ihnen nichts Neues …“
„Nein, gewiss. Aber kommen wir auf Ihre Tochter zurück. Sie sagten, ,das letzte Mal, als sie eingewiesen wurde‘. Sie war also vorher schon krank gewesen?“
„Alice war nie wie andere. Sie war eine sehr verschlossene junge Frau, unablässig im Kampf gegen alles. Eine unausstehliche Jugendliche, eine schlechte Schülerin … sonderbar.“
Man könnte meinen, sie spräche nicht von ihrer Tochter, sondern über eine vage Bekanntschaft aus ihrer Vergangenheit. Der Vater sagt nichts, er folgt der Unterhaltung wie ein stummer Schiedsrichter.
„Sonderbar?“
„Nun, Sie wissen ja, dass junge Mädchen in der Pubertät oftmals eine Diät durchmachen … um schöner zu sein.“
„Ja …“
„Alice hat auch eine gemacht. Aber nicht, um schöner zu werden. Für sie war es eher eine Erfahrung. Sie wollte die Reaktionen ihres Körpers auf den Nahrungsentzug beobachten. Sehen, welches Organ als erstes darunter leidet …“
„Hat sie Ihnen das erzählt?“
„Nein, der Krankenhauspsychologe hat es in ihrem Tagebuch gelesen, als wir sie dort unterbringen mussten. Damals hieß es, sie litte unter einer oppositionellen Verhaltensstörung, dann unter einer bipolaren Störung, dann unter einer leichten Form von Paranoia …“
„Wie wurde sie behandelt?“
„Anfangs wohnte sie bei uns und nahm mehrmals wöchentlich an einer Therapie teil.“
„In der Klinik in Vire?“
„Nein, in einem Krankenhaus.“
„Das muss schwer für Sie gewesen sein.“
„Sie können es sich nicht vorstellen. Zumal Lena, meine Tochter, auch Aufmerksamkeit brauchte.“
Sie hat nicht „meine jüngere Tochter“ oder „meine andere Tochter“ gesagt, sondern einfach nur „meine Tochter“. Als hätte Alice diesen Status verloren. Wer weiß, ob sie ihn überhaupt jemals hatte?
„War sie denn auch beeinträchtigt?“
„Oh nein, nun, nicht in diesem Sinn. Sie war beeinträchtigt, weil sie mit ihrer Schwester lebte. Es ist schwer für ein junges Mädchen, das alles haben könnte, zu akzeptieren, dass sie nur an zweiter Stelle kommt. Dass sie nicht an einem Rennen teilnehmen kann, weil ihre Eltern im Krankenhaus sind, oder dass ihre Freundinnen nicht kommen können, weil sie Angst hat, ihre Schwester könne diese angreifen.“
„Verstehe. Und die Therapien? Schlugen sie an?“
„Nicht wirklich. Es gab immer wieder Phasen des Fortschritts und dann war man wieder gezwungen, sie einzuweisen. Als sie zur Uni ging, nahm sie an einer Schreibtherapie teil, das schien das Richtige für sie … Und dann hat sie die Drogen entdeckt …“
„Das war der Zeitpunkt, als sie in eine Art Katatonie verfiel?“
„Genau, kurz nach ihrer Hochzeit. Wir haben uns deshalb entschieden, sie in der Klinik in Vire unterzubringen, ohne dabei wirklich auf Besserung gehofft zu haben.“
„Worin bestand die Behandlung in dieser Klinik?“
„Das weiß ich nicht genau. Ich glaube, ein Physiotherapeut kümmerte sich um ihren Körper und Doktor Legrand …“
„Belgrand.“
„Ja. Er hat sie an Gruppentherapien teilnehmen lassen.“
„Wissen Sie, welcher Art? Gestalttherapie? Nach Rogers? Analytische?“
Hoffentlich wissen die Duvals nicht mehr als ich auf diesem Gebiet …
„Nein.“
„Und Hypnose?“
„Ich glaube, davon war in der Versuchsbehandlung die Rede.“
„Können Sie mir über diesen Versuch mehr erzählen?“
„Vor einem Jahr hat uns das Krankenhaus mit einem Forschungsinstitut in Kontakt gebracht.“
„Hat Doktor Belgrand Sie vorgestellt?“
„Nein, das lief direkt über das Institut, aber war durch Belgrand vermittelt. Wir haben einen Doktor getroffen … Drouganine, glaube ich. Er erklärte uns, dass er bei Alice ein neues Verfahren anwenden wollte. Es klang vielversprechend.“
Ich bin erstaunt darüber,
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