Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt (German Edition)
und hatten Menschen gefesselt.
Als es schien, dass wir die Situation in den Griff bekämen – ich hing gerade am Arm eines der Türsteher der Party und versuchte mit meinem Kollegen, den Kerl zu Boden zu drücken –, zerrte jemand von hinten an meiner Schulter. Ich wurde herumgerissen und hatte das Gefühl, gegen eine Betonwand zu knallen.
Ich versuchte verzweifelt, nicht vor Schmerz ohnmächtig zu werden und zu Boden zu gehen, als ich sah, wie die Faust, die mich gerade mitten ins Gesicht getroffen hatte, erneut ausholte. Einer meiner Kollegen konnte den Schlag gerade noch mit einem gezielten Haken von mir ablenken. Ich schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können, fing einen besorgten Blick meines Partners auf, nickte ihm unter Schmerzen zu, und im nächsten Moment lag der Schläger unter uns am Boden und trug meine silbern glänzenden Handfesseln. Mein Blut tropfte auf seinen Rücken, während er brüllte: »Du dumme Fotze, mach die Dinger los, dann besorg ich’s dir direkt noch mal!«
Mit unseren Einsatzübungen hatte das hier wenig zu tun, doch am Ende hatten wir gewonnen: Zwanzig Männer saßen gefesselt an einem Zaun aufgereiht und warteten auf den Gefangenentransporter. Die andere Hälfte der Herren hatte sich klammheimlich vom Acker gemacht. Zwei Kollegen hatten Kratzer und Schrammen im Gesicht, einer hatte sich das Handgelenk gebrochen, und ich ahnte bereits, dass mit meiner Nase irgendwas nicht in Ordnung war. Trotzdem halfen wir Lädierten den Kollegen, die Gefesselten zu verladen, und begaben uns auf die Wache.
Da sitze ich nun, tippe die Anzeige und versuche nicht daran zu denken, wie sehr mir das Gesicht schmerzt. Einer der Kollegen klopft mir im Vorbeigehen auf die Schulter: »Ordentlich zugelangt, Binderchen, das traut man dir ja gar nicht zu!«
Ich grinse gequält, was ziemlich grotesk aussehen muss, und konzentriere mich wieder auf meinen Bericht.
In diesem Praktikum habe ich meine ersten Toten gesehen, hatte meinen ersten Kontakt mit dem Rotlichtmilieu, wurde mit der Hilflosigkeit und der Überarbeitung konfrontiert, die man bei manchen Einsätzen einfach verspürt, und habe nun zum ersten Mal auch ordentlich was auf die Fresse bekommen. Hatte ich bisher im geschützten Raum in Linnich mit Rollenspielern meine Einsätze geübt, so war jetzt alles echt.
Trotzdem bin ich zufrieden: Ich habe mich bewiesen. Ich bin nicht weggelaufen, ich habe zugepackt und trotz blutender Nase weitergearbeitet, bis unsere Aufgabe erledigt war. Logisch war ich nicht so stark wie die männlichen Kollegen, aber eine Kindheit mit zwei älteren Brüdern und einer jüngeren Schwester, die einen um eine Haupteslänge überragt, lehrt einen ein paar fiese Tricks. Natürlich musste ich meine Grenzen kennen und beachten, aber ich hatte es irgendwie hinbekommen, hatte nach meinen Möglichkeiten mitgekämpft und war trotz meiner nicht zu übersehenden Blessur siegreich gewesen.
Durch das Praktikum habe ich eine Ahnung bekommen, was mich als Polizistin erwarten wird. Mir ist klar geworden, dass es bei diesem Job keineswegs nur darum geht, einem Einstellungsberater zu beweisen, dass ich den Test bestehen und die Ausbildung schaffen würde, sondern dass ich mich auch im Beruf später in Situationen wiederfinden würde, die meine Möglichkeiten eigentlich übersteigen und die ich trotzdem irgendwie lösen muss. Wer mich in Zukunft rufen würde, der erwartete von mir Hilfe.
War ich anfangs recht naiv an diesen Job herangegangen, so begann mir mit der Heilung meiner gebrochenen Nase langsam zu dämmern, worauf ich mich da eingelassen hatte. Während meine Schulkameradinnen und -kameraden die erste große Liebe kennenlernten, sich im Unterricht der Oberstufe Briefchen schrieben und ihre Sexualität ausprobierten, wurde ich im Dienst zu Vergewaltigungsopfern gerufen, musste Kinderpornos sicherstellen, handfeste familiäre Streitigkeiten schlichten, verwahrloste Kinder aus Familien holen, schwere Unfälle aufnehmen und (eigentlich ist das für den normalen Streifenbeamten nicht vorgesehen, aber manchmal passiert es doch) Todesnachrichten an Angehörige überbringen. Ich lernte, dass ich mir meine Einsätze nicht aussuchen konnte, dass ich tun musste, was erforderlich war, auch wenn ich mich manches Mal gerne neben das heulende Opfer gesetzt und ebenfalls geweint hätte.
Ich stellte fest, wie ich mich von meinen früheren Freunden immer mehr entfernte. Ich fühlte mich überlegen, erwachsener, weiser und übersah
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