Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt (German Edition)
waren von einem Einsatz zum nächsten gefahren, und nur langsam wird es ruhiger am Funk. Erst kurz vor Dienstende haben wir ein bisschen Zeit, um zur Wache zu fahren, Schreibarbeiten zu erledigen, etwas zu essen und zu trinken.
Gerade lehne ich mich in meinem Schreibtischstuhl zurück und schließe für einen Moment die Augen, als der Kopf des Funkers im Türrahmen erscheint. »Könnt ihr mal grade …?«
Natürlich können wir. Ich schüttle kurz den Kopf, damit die Müdigkeit verschwindet, ziehe die Lederjacke über und sitze wenige Minuten später mit Christian im Streifenwagen. Mit Blaulicht und Martinshorn rasen wir kurz vor Feierabend in Richtung des nächsten Einsatzes. Eigentlich müsste es zu dieser frühen Stunde ja »Feiermorgen« heißen, denke ich, aber im Schichtdienst nennen wir das Dienstende nun mal Feierabend, ob es nun spät in der Nacht, mitten am Tag oder morgens um sechs ist.
Schweigend fahren wir durch die noch menschenleeren Straßen Kölns. »Hilflose Person« ist unser Einsatzstichwort. Das erfordert keine großen Absprachen: Irgendjemand hat zu viel gesoffen und macht jetzt Theater im Hausflur. Routine, immer das Gleiche, kein Überlegen, was einen erwartet. Selbst Christian mit seinem erst wenige Monate alten Kommissarsstern auf den Schulterklappen hat bereits hinreichend Erfahrung mit dieser Art von Einsätzen. So verzichtet er auf Fragen und hängt, wie ich auch, seinen eigenen Gedanken nach, während das Blaulicht durch die Nacht flackert.
Wir halten vor einem Mehrfamilienhaus in Porz-Eil. Keine besonders hübsche Gegend, aber auch nicht total asozial. Ich streiche mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, stecke mechanisch das Funkgerät in die Jackentasche, stoße die Streifenwagentür auf und atme tief die kalte Nachtluft ein. Sekunden später stehen wir vor der Haustür und klingeln. Da die Melderin nicht so freundlich war, ihren Namen anzugeben, drücke ich auf alle Klingelknöpfe gleichzeitig. Die Nachbarn werden sich freuen, aber irgendwie müssen wir ja rein.
Zunächst keine Reaktion, nur das Licht im Flur geht immer wieder flackernd an und aus. Mich fröstelt, der Winter rückt näher. Tagsüber ist es noch ganz angenehm, aber die Nächte werden immer kühler. Bald wird es Zeit, die Lederjacke gegen den Parka zu tauschen und die dicken Handschuhe für nachts herauszusuchen.
Niemand öffnet, über Funk gleiche ich noch mal die Adresse ab. Doch keine Frage, hier muss es sein. Schulterzuckend klingelt Christian noch mal. Im selben Moment ertönt der Türsummer. Mit einem kräftigen Ruck stoße ich die Haustür auf und betätige gleichzeitig mit dem Ellenbogen den Lichtschalter. Ohne Handschuhe will ich so wenig wie möglich anfassen, man weiß ja nie, wie ernst man es in solchen Mehrfamilienhäusern mit dem Hausputz nimmt.
Der Flur riecht muffig und wirkt genauso schmuddelig, wie ich es erwartet habe. Durchs Treppenauge spähe ich nach unten in den Kellerabgang. Niemand zu sehen. Irgendwo in einer der oberen Etagen höre ich eine Tür rhythmisch auf- und zuschlagen. Eine krächzende Frauenstimme scheint immer wieder leise ein Lied zu singen. Das dort oben wird wohl unsere Zielwohnung sein.
»Auf geht’s! Natürlich ist es ganz oben.« Ich seufze, Christian lächelt gequält.
Im Laufschritt geht es die Treppe rauf. Bereits in der zweiten Etage merke ich, wie mir unter Pullover, Schutzweste und Lederjacke der Schweiß ausbricht, und innerlich verfluche ich jedes Gramm Ausrüstung, das ich mit mir herumtrage. Das Funkgerät in meiner Jackentasche schlägt mir beim Rennen dumpf gegen die Brust. Der Kollege ist fitter als ich und erreicht den obersten Stock zuerst. Dennoch knallt die Wohnungstür direkt vor seiner Nase zu, bevor er einen Fuß in den Spalt zwischen Rahmen und Tür schieben kann. Er hämmert mit der Faust gegen das Türblatt. Laut hallen die Schläge durch das Haus.
Hinter der Tür hören wir erneut die kratzige weibliche Stimme. Ein lautes, unverständliches Gemurmel setzt ein, und als ich gerade meinen letzten Schritt die Treppe hoch mache, öffnet sich die Tür wieder. Einen Moment bin ich irritiert und weiche einen kleinen Schritt zurück, meine Hand fährt an die Waffe, denn ich sehe niemanden in dem Spalt. Erst als wieder die seltsam singende Stimme ertönt, richte ich meinen Blick auf den Fußboden und schaue in das von tiefschwarzen Hämatomen übersäte und blutverkrustete Gesicht einer Frau mittleren Alters. Ein Auge ist so zugeschwollen, dass man den
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