Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt (German Edition)
wird kleiner werden, so wie es immer gewesen ist in den letzten dreizehn Jahren Polizeidienst. Die Erleichterung darüber, dass wir gerade noch rechtzeitig gekommen sind, wird überwiegen.
In Gedanken sehe ich die Kleine lachend mit anderen Kindern über die Wiese des Kinderheims laufen. Sie wird darüber hinwegkommen, man wird sich um sie kümmern.
Es klopft, und die Tür zum Vorraum geht einen Spalt weit auf. Mein Kollege steckt den Kopf herein, stumm hält er mir eine Zigarette hin. »Rauchen? Reden?«
Ich denke an meine Notfallschokoriegel, mit deren Hilfe ich mir das Rauchen vor so langer Zeit auch in solchen Fällen abgewöhnt habe. Dann sehe ich seinen bittenden Blick. Nehme die Zigarette und gehe mit ihm vor die Tür. Auf einem Blumenkübel sitzend, rauchen wir, inhalieren tief und blicken in die Sterne.
»Wir waren noch rechtzeitig da, oder?«
Ich nicke stumm.
»Ich dachte, das Kind ist tot.«
Wieder nicke ich.
»Schreibst du darüber eine Geschichte?« Er sieht mich fragend an.
»Ja.« Ich nicke ernst. »Das ist definitiv eine Geschichte wert!«
Er lacht. »Mach mich in der Geschichte ein bisschen sportlicher, ein bisschen schöner und ein bisschen mutiger, ja?«
»Muss ich gar nicht. Du warst gut, so wie du warst.« Ich überlege kurz, dann frage ich ihn: »Wie verarbeitest du das?«
»Ich?«
»Ja, du. Ich schreibe eine Geschichte. Keine schöne, aber eine, die die Seele befreit. Was machst du?«
Er überlegt, aber nur kurz, dann sagt er: »Ich rede jetzt grade mit dir. Das reicht schon. Glaub ich.«
Kurz drücke ich seine Hand. Dann stehen wir auf, werfen die Kippen ins Gras und gehen in die Wache. Bereit für den Feierabend und morgen für die nächsten Einsätze, von denen wir nicht wissen, wie sie aussehen werden.
Wie alles begann
1998
Doch bevor ich Einsätze fahren konnte, die mich überraschen, aus der Bahn werfen, zum Lachen bringen, berühren, bewegen und manchmal tatsächlich auch langweilen würden, musste ich erst einmal die Entscheidung treffen, Polizistin zu werden. Eigentlich wollte ich ja immer etwas ganz anderes werden. Seit dem Kindergarten antwortete ich auf die Frage nach meinem Berufswunsch: Lehrerin, und zwar für Mathe, Deutsch und Biologie. Dass es letztlich so kam, wie es kam, habe ich zum einen der Situation zu verdanken, dass sich all meine Klassenkameraden auf eine Lehre vorbereiteten und auch ich vor diesem Hintergrund die Idee von Abitur und Studium immer weniger reizvoll fand, zum anderen meiner Mutter, die mich mit Informationsmaterial zu allen möglichen und unmöglichen Berufen eindeckte, und letztlich einem Einstellungsberater, der in mir einen nie zuvor gekannten Ehrgeiz weckte. Aber lesen Sie selbst.
»So, dann gehen wir mal zum Lauf auf den Sportplatz!«, fordert uns der Herr im ballonseidenen blauen Sportanzug und mit dem eindrucksvollen Schnurrbart auf.
Ich bin von den Turnübungen, die ich gerade erst absolviert habe, noch ziemlich aus der Puste und schnaufe ordentlich. Die Aussicht, mich jetzt auf den Sportplatz des Ausbildungsinstituts in Münster zu begeben, wo gerade Hunderte von Polizisten in kompletter Uniform Mittagspause machen – mehr, als ich in meinem ganzen bisherigen Leben zusammengerechnet gesehen habe –, ist mir alles andere als angenehm. Ich soll vor unzähligen Männeraugen meine Laufübungen absolvieren, dabei bin ich gerade sechzehn geworden, unsicher und schüchtern. Ich werde schon knallrot, wenn mich ein männliches Wesen auch nur in Jeans und T -Shirt sieht. Jetzt trage ich Sportzeug, knappe rosa Shorts und ein T -Shirt in Lila. Ganz sicher werde ich sterben, wenn ich da draußen laufen soll.
»Ähm, können wir nicht hier drinnen …?« Verlegen knete ich an meiner Turnhose herum und weiche dem Blick des Prüfers aus.
»Nix da, draußen wird gelaufen oder gar nicht!«
Ich schlucke und tausche einen raschen Blick mit meiner Leidensgenossin, die gemeinsam mit mir als Einzige aus einer Gruppe von hundert Bewerbern den schriftlichen und ärztlichen Einstellungstest erfolgreich absolviert hat. Schicksalsergeben schleichen wir hinter dem Prüfer nach draußen.
«Du kannst immer noch verschwinden«, sage ich mir. »Ja, war nett hier, ich wollt nur mal Tag sagen. Tschö, ich bin dann mal weg!« Das würde schon genügen.
Meiner Mitbewerberin geht es augenscheinlich nicht viel besser, ich sehe deutlich, wie sie zittert. Dabei ist sie in meinen Augen bereits erwachsen: groß und schön und vor allem mindestens fünf
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