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Seitensprung ins Glück

Titel: Seitensprung ins Glück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary E Mitchell
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Miss Rheingold, die mit einem Bündel auf dem Arm in die Sonne blinzelt. Ich sehe ein Babybäckchen halbmondförmig aus dem Wickeltuch in ihrer Armbeuge lugen. Ich sehe das große Glück auf Helens hoffnungsvollem Gesicht.
    »Mein Gott, wie schön du warst«, sage ich.
    »Du hättest deine Mutter sehen sollen.«
    Jetzt wiegt sich meine kleine Großmutter, die Kraftquelle meiner Kindheit, sachte hin und her, als wäre der steiflehnige skandinavische Stuhl, auf dem sie sitzt, in Wahrheit ein Schaukelstuhl, und als hätte sie das Baby vom Foto wieder im Arm. Sie starrt das Bild aus verschwommenen Augen an und reibt mit dem Zeigefinger über die zerfledderten Ecken des Schnappschusses.
    »Ma«, sage ich. »Wer war sie?«
    »Das war in Montauk«, erklärt sie mir. »Pulkowski und ich pflegten eines von diesen kleinen Puppenhäuschen entlang der alten Route 27 zu mieten.«
    Ich kenne die alte Route 27 nicht. Ich war nie mit Helen und Pulkowski in Montauk. Ich wurde all die Sommer meiner Kindheit nach Sag Harbor verschickt, in ein Sommercamp, wo Disney-Filme auf weißen Laken abgespielt wurden und wo immer Sand in den Sandwiches war.
    »Ist das meine Mutter, in deinen Armen?«
    »Das war ihr erster Besuch am Strand«, sagt Helen. »Sie war erst sechs Wochen alt. Ich hatte Angst, dass eine Welle sie fortspülen würde.«
    Eifersucht flammt irgendwo in meinem Magen auf. »Wie heißt sie?« Wieder betrachte ich den Schnappschuss, den tadellos flachen Bauch meiner Großmutter nur sechs Wochen, nachdem sie das pausbäckige Baby in ihren Armen zur Welt gebracht hatte. Wessen Kind bin ich?
    Helen wiegt sich weiter. »Was für einen wunden Po sie hatte von all der Sonne und dem Sand! Pulkowski musste mit dem Studebaker den ganzen Weg bis nach Hauppauge fahren, um eine Salbe zu besorgen.« Hin und her, hin und her, hin und her . Sie ist in ein Loch gefallen, das ein halbes Jahrhundert tief ist.
    »Ma«, sage ich. »Wie heißt sie? Wo ist sie? Was ist passiert?«
    Helen sieht auf, als wäre sie überrascht, dass ich immer noch neben ihr am Tisch sitze. »Ach, meine kleine Dickmadam«, seufzt sie, dann füllen ihre Augen sich mit Tränen. Sie tätschelt mit ihrer eigenen, kleinen, kalten Hand die meine. »Fuhr mal mit der Eisenbahn.«
    »Ihr Name, Ma.«
    Ich bin freundlich zu ihr, doch jetzt spüre auch ich, wie sich meine Augen mit Tränen füllen. Ich blicke von Helens trauriger Miene zurück zu dem Schnappschuss, betrachte das kleine Gesichtchen, suche nach einem Hinweis, etwas Vertrautem, Tröstlichem. Oder zumindest nach etwas Aussagekräftigerem, als meine Großmutter es mir im Moment bieten kann. Doch was kann einem ein fünfzig Jahre altes, daumennagelgroßes Gesicht schon verraten? Nichts. Eine Träne rinnt mir über die Wange. Ich wische sie weg, bevor sie auf das Album tropft.
    »Alexa«, sagt Helen plötzlich. »Das war ein alter Name auf der Pulkowski-Seite.«
    Wieder tätschelt Helen meine Hand.
    »Wo ist sie? Was ist passiert? Lebt sie noch?«
    »Eisenbahn, die krachte. Dickmadam, die lachte.«
    Jetzt ist Helen untergetaucht. Sie ist zu tief drinnen in dem Loch. »Da fährt man nach Hauppauge und holt die Salbe«, sagt sie zu jemandem. »Da wäscht man ihr Haar mit einer Pflegespülung, damit es beim Kämmen nicht ziept. Man legt sich mit den Lehrern an … bereitet das Pausenbrot vor, säumt die Partykleider … man verteidigt sie, beschützt sie, erzieht sie, macht sich wahnsinnig vor Sorgen, und wofür?«
    Sie sieht mich an. »Wofür?«, fragt sie noch einmal, und ihre Augen brennen vor Unverständnis. »Verbringt man etwa all die Jahre damit, so ein Mädchen großzuziehen und zu lieben, nur um sie an so einen abzugeben, so einen … Jungen? Einen groben, nichtsnutzigen Jungen?«
    Das dürfte dann wohl mein Vater gewesen sein.
    »Wer war er?«, frage ich.
    »Ein Penner«, sagt sie.
    »Ein Penner? Meine Mutter hat mit einem Penner geschlafen?«
    Helen wedelt wegwerfend mit der Hand. »Er war irgend so ein Junge von ihrer Highschool. Das ist alles.«
    »Und das macht ihn zu einem Penner?«
    »Sie hat ihn im Schulbus kennengelernt! Er war nicht mal auf dem College.«
    »Und das macht ihn zu einem Penner?«, wiederhole ich. Ich merke, wie sich etwas tief in mir bewegt, und erkenne, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben meinen Vater verteidige.
    »Er wollte Zimmermann werden!«, kreischt Helen.
    »Jesus war auch Zimmermann!«, kreische ich zurück und setze auf die katholische Karte, um sie zu beschämen, diese Frau,

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