Seitenwechsel
diese Fragen. Sie waren allerdings rein rhetorischer Natur, wie sie wohl wusste. Die Antworten kannte sie, jede einzelne, und immer war es dieselbe. Was für eine Ironie! Sie konnte Clare nicht verraten, konnte nicht einmal das Risiko eingehen, für Leute einzutreten, die schlechtgemacht wurden, aus Angst, ihr Eintreten würde vielleicht zur endgültigen Entdeckung von Clares Geheimnis führen. Sie hatte Clare Kendry gegenüber eine Pflicht. Sie war ihr durch ebendiese Bindung an die Rasse verpflichtet, die Clare zwar verworfen, aber nicht völlig hatte durchtrennen können.
Es war ja nicht einmal so, dass Clare sich um Rasse scherte oder was sich zwangsläufig daraus ergab. Überhaupt nicht. Sie hatte keine große Zuneigung für irgendwelche Angehörigen ihrer Rasse oder auch bloß Zuneigung, obwohl sie für die kleinen Freundlichkeiten, die ihr als Kind von den Westovers erwiesen worden waren, ewige Dankbarkeit bekundete. Irene zweifelte an ihrer Aufrichtigkeit und sah sich selbst nur als Mittel zum Zweck an, bei dem es um Clare ging. Auch von einem künstlerischen oder soziologischen Interesse an der Rasse wie bei manchen Angehörigen anderer Rassen konnte nicht die Rede sein. Nein, nichts dergleichen. Clare machte sich nichts aus der Rasse. Sie gehörte ihr nur an.
»Verdammt noch mal!«, entfuhr es Irene, als sie sich den hauchdünnen Strumpf über ihren beigefarbenen Fuß zog.
»Aha! Wird wieder mal geflucht, Madam? Hab ich dich dabei erwischt.«
Brian Redfield war auf diese geräuschlose Art ins Zimmer getreten, mit der er es trotz jahrelangen Zusammenlebens immer noch schaffte, sie zu verwirren. Er stand da und schaute hinunter auf sie mit seinem amüsiertem Blick, der einen Hauch von Arroganz zeigte und ihm bestens stand.
Hastig zog Irene sich den zweiten Strumpf an und schlüpfte in die Pantoffeln neben ihrem Stuhl.
»Und was hat diesen speziellen Ausbruch ruchloser Rede hervorgerufen? Das heißt, wenn ein gutmütiger, aber beunruhigter Gatte fragen darf. Zudem die Mutter zweier Söhne! O tempora, o mores!«
»Hier dieser Brief«, sagte Irene. »Jeder muss zugeben, dass der genügt, um eine Heilige zum Fluchen zu bringen. So etwas von dreist!!«
Sie reichte ihm den Brief und missbilligte es innerlich im selben Augenblick. Sie erkannte nämlich nur zu genau, dass sie agierte, statt seine Frage zu beantworten, damit er beschäftigt war, während sie sich mit dem Anziehen beeilte. Sie war wieder mal spät dran, und Brian verabscheute das. Warum, warum nur konnte sie nie pünktlich sein? Brian war seit einer Ewigkeit auf, hatte, soviel sie wusste, schon telefoniert, außerdem die Jungen zur Schule in die Stadt gebracht. Und sie war immer noch nicht angezogen; hatte erst damit begonnen. Blöde Clare! An diesem Morgen war es ihre Schuld.
Brian setzte sich und beugte sich über den Brief, die Augenbrauen leicht zusammengezogen in der Anstrengung, Clares Gekritzel zu entziffern.
Irene war aufgestanden und trat vor den Spiegel, fuhr mit dem Kamm durch ihr schwarzes Haar, schüttelte danach den Kopf mit dieser typischen kleinen Geste, um die fein gelegten Locken etwas aufzulockern. Sie strich mit einer Puderquaste über ihre warm olivfarbene Haut und zog dann den Rock so hastig an, dass sie Mühe hatte, bis er richtig saß. Schließlich war sie fertig, doch sie sagte es nicht gleich, sondern blieb stehen und betrachtete neugierig, unvoreingenommen ihren Mann auf der anderen Seite des Zimmers.
Brian war, fand sie, ungewöhnlich gutaussehend. Natürlich nicht schön oder weibisch; die leichte Unregelmäßigkeit seiner Nase bewahrte ihn davor, schön zu sein, und das ziemlich ausgeprägte massive Kinn davor, weibisch zu wirken. Aber er war auf angenehm männliche Weise sehr attraktiv. Und vielleicht sähe er nur durchschnittlich gut aus, wenn da nicht die Frische und Makellosigkeit seiner Haut wären, die ungewöhnlich fein beschaffen war und einen dunklen Kupferton hatte.
Er schaute hoch. »Clare? Das muss die Freundin sein, die du bei deinem letzten Aufenthalt in Chicago getroffen hast, wie du erzählt hast. Mit der du Tee getrunken hast?«
Irene nickte als Antwort nur mit dem Kopf.
»Ich bin fertig.«
Sie gingen die Treppe hinunter, wobei Brian sie geschickt, ganz unnötig, über die zwei kurzen geschwungenen Stufen vor dem mittleren Absatz bugsierte.
»Du wirst sie doch nicht sehen?«, fragte er.
Seine Worte waren in Wirklichkeit jedoch keine Frage, sondern vielmehr eine Ermahnung.
Ihre
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