Seitenwechsel
Es stimmte, sie hatte in der Vergangenheit allzu gern geglaubt, die Unzufriedenheit sei verflogen, und musste sich dann auf eine instinktive, hintergründige Weise bewusst werden, dass sie nur sich selbst eine Zeitlang getäuscht hatte und sie sehr wohl noch lebendig war. Aber sie würde vergehen. Das stand fest für sie. Sie musste ihren Mann nur führen und lenken, damit er weiter in die richtige Richtung ging.
Sie zog den Mantel an und setzte sich den Hut auf.
Ja, die Unzufriedenheit würde vergehen, wie sie es sich vor langer Zeit vorgenommen hatte. Unterdessen aber, solange die Unzufriedenheit sich noch regte und stark genug war, sich zu äußern und sie zu ängstigen, würde man mit ihr rechnen, sie ersticken und etwas an ihre Stelle setzen müssen. Sie musste gleich einen Plan machen, eine Entscheidung treffen. Sie runzelte die Stirn, denn es verdross sie sehr. Wenn es auch nur vorläufig war, würde es doch eine größere Sache sein und vielleicht Unruhe bringen. Irene mochte keine Veränderungen, besonders Veränderungen, die die schöne Routine ihres Haushalts beeinträchtigten. Nun, daran war nichts zu ändern. Etwas musste getan werden. Und zwar sofort.
Sie nahm ihre Tasche und lief, sich die Handschuhe anziehend, die Treppe hinunter und durch die Tür, die Brian für sie aufhielt, und stieg in das wartende Auto.
»Weißt du«, sagte sie und setzte sich neben ihn, »ich bin richtig froh, dass ich diese Minute mit dir allein habe. Wir haben scheint’s immer so viel zu tun – ich hasse das –, aber was bleibt uns übrig? Ich habe schon so lange etwas auf dem Herzen, etwas, worüber wir sprechen und uns ernsthaft Gedanken machen sollten.«
Der Motor heulte auf, als Brian das Auto routiniert vom Bordstein weg in den spärlichen Verkehr steuerte.
Sie studierte sein Profil.
Sie fuhren in die Seventh Avenue. Er sagte: »Raus damit. Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen, wenn es Wichtiges zu erledigen gibt.«
»Es geht um Junior. Ich frage mich, ob das nicht zu schnell läuft für ihn in der Schule? Wir vergessen, dass er noch nicht elf ist. Das kann doch nicht gut sein für ihn, wenn – wo er doch erst elf ist. Das geht zu schnell, meine ich. Natürlich verstehst du mehr von diesen Dingen als ich. Du kannst das besser beurteilen. Das heißt, wenn du es überhaupt bemerkt oder darüber nachgedacht hast.«
»Ich wünschte mir, Irene, du würdest dir nicht ständig Sorgen machen über die Kinder. Die sind in Ordnung. Völlig in Ordnung. Ganz normale, starke, gesunde Jungen, besonders Junior. Ganz besonders Junior.«
»Hm, vermutlich hast du recht. Du bist sicher darüber im Bilde, und bestimmt würdest du dich bei deinem eigenen Jungen nicht vertun.« (Warum hatte sie denn das gesagt?) »Aber das ist noch nicht alles. Ich fürchte, er hat ein paar abwegige Vorstellungen über Dinge – ganz bestimmte Dinge – von den älteren Jungen aufgeschnappt, weißt du.«
Sie gab sich bewusst locker. Scheinbar auf das Verkehrsgewirr konzentriert, studierte sie dennoch genau Brians Gesicht. Auf ihm zeigte sich ein merkwürdiger Ausdruck. War es, konnte es eine Mischung aus Verachtung und Abneigung sein?
»Abwegige Vorstellungen?«, wiederholte er. »Du meinst Vorstellungen über Sex, Irene?«
»Jaaa. Keine ganz schönen. Furchtbare Witze und so.«
»Oh, verstehe«, gab er knapp zurück. Eine Weile herrschte Schweigen. Dann sagte er schroff: »Was ist schon dabei? Wenn Sex kein Witz ist, was dann? Und was ist ein Witz?«
»Wie du willst, Brian. Er ist doch dein Sohn.« Ihre Stimme war klar, ruhig, missbilligend.
»Eben! Und du versuchst, aus ihm ein Weichei zu machen. Lass dir das gesagt sein, ich will das nicht. Und glaub bloß nicht, ich würde zulassen, dass du ihn zu so einer netten Tralalaschule schickst, bloß weil er ein bisschen notwendige Erziehung bekommt. Ich will das nicht! Er wird genau da bleiben, wo er ist. Je früher und je mehr er über Sex erfährt, desto besser für ihn. Und vor allem, wenn er erfährt, dass Sex ein großartiger Witz ist, der beste auf der Welt. Es wird ihn später vor vielen Enttäuschungen bewahren.«
Irene gab keine Antwort.
Sie erreichten die Druckerei. Sie stieg aus und schlug die Tür mit Nachdruck hinter sich zu. Ihr war schrecklich elend zumute. Sie hatte nicht vorgehabt, sich so zu benehmen, aber ihre Verbitterung über seine Haltung, das Gefühl, absichtlich missverstanden und getadelt zu werden, machte sie rasend.
In der Druckerei
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