Seitenwechsel
unendlich glücklichere ist. Ich bin mir im Moment nicht sicher. Zumindest nicht so sicher, wie ich es gewesen bin .
C.
Aber der Brief hatte Irene nicht versöhnt. Ihre Entrüstung hatte sich durch Clares schmeichelhaften Hinweis auf ihre Klugheit nicht gelegt. Als wenn, dachte sie zornig, irgendetwas die Demütigung auch nur andeutungsweise tilgen könnte, die sie gestern Nachmittag wegen Clare Kendry eingesteckt hatte.
Sie zerriss den kränkenden Brief ungewohnt systematisch in winzige quadratische Fetzen, die herunterflatterten und ein Häufchen auf ihrem schwarzen Chinakrepp-Schoß bildeten. Nachdem die Zerstörung vollständig war, sammelte sie die Papierschnitzel, stand auf und ging zum Zugende. Dort ließ sie sie über die Waggonbrüstung fallen und beobachtete, wie sie sich verstreuten, auf Gleise, Asche, Grasbüschel, in Rinnsale trüben Wassers.
Und das war es dann. Die Chancen standen eins zu einer Million, dass sie Clare Kendry je wieder zu Gesicht bekam. Wenn jedoch die millionste Chance sich ergeben sollte, müsste sie nur wegschauen und sie nicht ergreifen.
Sie strich Clare aus ihren Gedanken und wandte sich ihren eigenen Angelegenheiten zu. Ihrem Heim, den Jungen, Brian. Brian, der am Morgen im großen, lauten Bahnhof auf sie warten würde. Sie hoffte, dass er es behaglich gehabt und sich nicht zu einsam ohne sie und die Jungen gefühlt hatte. Nicht so einsam, dass ihn wieder diese seltsame, unglückliche Ruhelosigkeit gepackt hatte; die Sehnsucht nach einer andersartigen Fremde, die sie am Anfang ihrer Ehe mit einem Kraftakt hatte zurückdrängen müssen und die sie bislang wenig ängstigte, obwohl sie jetzt in immer kürzeren Abständen aufkam.
zweiter teil
Erneute Begegnung
eins
Das waren Irene Redfields Erinnerungen, während sie da in ihrem Zimmer saß, oktoberliches Sonnenlicht hereinflutete und sie Clare Kendrys zweiten Brief in der Hand hielt.
Nachdem sie ihn beiseitegelegt hatte, sann sie verwundert und etwas amüsiert über die heftigen Gefühle nach, die der Brief bei ihr auslöste.
Nicht das Ausmaß des Zorns überraschte und amüsierte sie. Der Zorn war gerechtfertigt und angemessen, auch, dass er unvermindert stark einen Zeitraum von zwei Jahren überdauert hatte, in dem von John Bellew oder Clare nichts zu sehen oder zu hören gewesen war. Es kam ihr nicht ungewöhnlich vor, wie selbst nach so langer Zeit die Erinnerung an die Worte und das Verhalten des Mannes die Macht hatte, dass ihr die Hände zitterten und das Blut gegen die Schläfen pochte. Aber dass sie jenes dunkle Gefühl der Angst, ja der Panik zurückbehalten hatte, war überraschend und töricht.
Es verwunderte sie nicht sehr, dass Clare ihr geschrieben und sich allen Umständen zum Trotz gewünscht hatte, sie wiederzusehen. Typisch Clare, Verärgerung, Bitterkeit oder Leid der anderen zählten für sie überhaupt nicht.
Eines jedenfalls – Irene zog die Schultern hoch – stand fest: Sie musste sich nicht – wahrlich nicht – wieder Clare Kendry zuliebe so quälend und abscheulich demütigen lassen wie ›damals in Chicago‹. Das eine Mal reichte.
Wenn Clare bei der Wahl ihres Weges die Kosten nicht genau berechnet hatte, hatte sie doch kein Recht, von anderen zu erwarten, dass sie die Rechnung beglichen. Das Problem mit Clare war, sie wollte immer auf zwei Hochzeiten tanzen; und schielte dann noch nach einer dritten.
Irene Redfield fiel es schwer, mit Clares neuer Zärtlichkeit, ihrem erklärten Verlangen nach ›meinen eigenen Leuten‹, zu sympathisieren.
Dieser gerade aus der Hand gelegte Brief war für ihren Geschmack etwas zu überschwänglich, zu wortreich, eine Nuance zu rückhaltlos im Ausdruck. Er weckte in ihr wieder den alten Verdacht, dass Clare schauspielerte, vielleicht unbewusst – das heißt nicht allzu bewusst –, aber nichtsdestoweniger schauspielerte. Irene neigte auch nicht dazu, Clares ausgesprochenen Egoismus, wie sie es bezeichnete, zu entschuldigen.
Zu ihrem Zweifel und ihrem Groll kam noch ein anderes Empfinden hinzu, eine Frage. Warum hatte sie selbst an dem Tag nichts gesagt? Warum hatte sie angesichts von Bellews blindwütigem Hass und seiner Aversion ihre eigene Herkunft geheim gehalten? Warum zugelassen, dass er seine Behauptungen aufstellte und seine abwegigen Vorstellungen unwidersprochen zum Ausdruck brachte? Hatte sie es allein Clare Kendrys wegen, die sie solcher Qual ausgesetzt hatte, versäumt, für die Rasse einzustehen, der sie angehörte?
Irene stellte sich
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