Seitenwechsel
erhalten und zu vermehren.«
Irene war gänzlich anderer Meinung, aber viele Auseinandersetzungen in der Vergangenheit hatten sie gelehrt, wie vergeblich der Versuch war, mit Brian auf Terrain zu kämpfen, das ihm vertrauter war als ihr. Sie ignorierte seine untaugliche Behauptung und ließ das Thema fallen.
»Sag mal, hast du vielleicht Zeit, mich schnell bei der Druckerei vorbeizufahren? Sie ist in der 116th Street. Ich muss mich um die Handzettel kümmern und um weitere Eintrittskarten für den Tanz.«
»Ja, sicher. Wie läuft es denn so? Alles bereit?«
»Ja-a. Ich denke schon. Die Logen sind ausverkauft und beinah der ganze erste Stapel Eintrittskarten. Wir rechnen damit, fast noch einmal so viel am Eingang einzunehmen. Dann ist da der viele Kuchen, der verkauft werden muss. Ist allerdings eine Heidenarbeit.«
»Und ob. Den Brüdern moralischen Beistand leisten ist kein einfacher Job. Ich selbst weiß nicht, wo mir der Kopf steht.« Und sein Gesicht verdunkelte sich. »Mein Gott! Wie ich kranke Leute hasse und deren blöde Familien, die sich ständig einmischen, und all die stinkenden Dreckszimmer und die schmutzigen Treppen in dunklen Hausfluren, die man hochsteigen muss.«
»Bestimmt«, begann Irene und kämpfte gegen ihre Angst und Verärgerung an, »bestimmt –«
Ihr Mann brachte sie zum Schweigen, indem er scharf sagte: »Reden wir bitte nicht darüber.« Und gleich darauf fragte er mit seiner üblichen, leicht spöttischen Stimme: »Bist du fertig? Ich kann nicht allzu lange warten.«
Er stand auf. Sie folgte ihm, ohne zu antworten, in die Diele. Er nahm sich seinen weichen braunen Hut von einem kleinen Tisch und kreiselte ihn einen Augenblick auf seinen langen, teefarbenen Fingern.
Während Irene ihn beobachtete, dachte sie: ›Das ist nicht fair, das ist nicht fair.‹ Ihr das nach all den Jahren immer noch vorzuwerfen. Hatte sein Erfolg nicht bewiesen, wie recht sie hatte, darauf zu beharren, dass er genau hier in New York bei seinem Beruf blieb? Konnte er nicht sehen, sogar jetzt, dass es das Beste gewesen war? Nicht für sie, o nein, nicht für sie – sie hatte nie wirklich an sich selbst gedacht –, aber für ihn und die Jungen. Sollte sie denn nie frei von der Angst sein, die immer ganz tief in ihr saß und die dem Leben, das sie für sie alle so erstaunlich geordnet hatte und unbedingt so erhalten wollte, das Gefühl von Sicherheit, das Gefühl von Dauer stahl? Brians seltsame und ihr phantastisch vorkommende Vorstellung, nach Brasilien zu gehen, blieb unausgesprochen, lebte aber in ihm. Und die ängstigte sie und – ja, verdross sie!
»Nun?«, fragte er leichthin.
»Ich hole nur meine Sachen. Einen Augenblick«, versprach sie und ging nach oben.
Ihre Stimme hatte ruhig geklungen, und ihr Schritt war fest, aber die Beunruhigung, die Besorgnis, die Brians Äußerung der Unzufriedenheit ausgelöst hatte, ließ nicht nach. Er hatte von seinem Wunsch nie mehr gesprochen seit jener schweren Krise vor langer Zeit, den hasserfüllten und ziemlich fatalen Streitereien, wo sie sich ihm so nachdrücklich widersetzt hatte, so vernünftig die absolute Unmöglichkeit und die wahrscheinlichen Folgen für sie und die Jungen aufgezeigt hatte und sogar eine Auflösung ihrer Ehe angedeutet hatte, falls er auf seiner Idee bestehen würde. Nein, es hatte in all den Jahren ihres Zusammenlebens seitdem keine weiteren Gespräche darüber gegeben, ebenso wenig wie Streitereien oder Drohungen. Aber weil das heilige Band von Fleisch und Geist zwischen ihnen so stark war, wusste sie, hatte es immer gewusst, dass die Unzufriedenheit und auch seine Abneigung und sein Widerwillen gegenüber seinem Beruf und seinem Land geblieben waren.
Ihr wurde beklommen zumute bei dem undenkbaren Verdacht, sie könne sich vielleicht geirrt haben, als sie den Charakter ihres Mannes einschätzte. Doch sie wehrte den Verdacht ab. Unmöglich! Sie konnte sich nicht geirrt haben. Alles bewies, dass sie richtiggelegen hatte. Mehr als richtig, wenn es so etwas gäbe. Und zwar, redete sie sich zu, weil sie ihn so gut verstand, weil sie wirklich eine besondere Begabung hatte, ihn zu verstehen. Es war aus ihrer Sicht die Grundlage für den Erfolg gewesen, den sie aus einer Ehe gemacht hatte, die einmal in die Brüche zu gehen drohte. Sie kannte ihn so gut, wie er sich selbst kannte, besser noch.
Warum sich dann ängstigen? Dieser Unmut, der sich in Worten Luft gemacht hatte, würde sicherlich nachlassen und schließlich ganz vergehen.
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