Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
(dabei machte er eine beidhändige Geste für die Anführungszeichen) herausfinden wolle. Der Priester war recht erstaunt, als der Psychiater ihm die Thesen Jungs auseinandersetzte und ihm sagte, dass seine Stärke eigentlich in der Vergebung der Sünden ohne Anführungszeichen liege. Die Anführungszeichensünden und deren psychologische Ursachen zu ergründen seien nicht der Auftrag des Pönitenten und damit ein Privatinteresse des Experten, das in seinem professionalen Kontext nichts verloren habe.
Die Psychotherapie erarbeitet die Einsicht in die eigene Schuld, indem sie Verdrängungen freilegt, Blockaden durch Fremdbeschuldigung aufhebt und die Willensfreiheit stärkt. So kann sie Reue bewirken und ebnet möglicherweise den Weg zur Beichte. Die Aufgabe der Religion hingegen ist die moralische Beurteilung der Schuld. Die Aufgabe des Beichtrituals schließlich ist die Befreiung von der Schuld – denn ein Psychiater kann definitiv keine Sünden vergeben! Umgekehrt kann der Beichtvater die Sünden nicht vergeben, wenn der Pönitent seine Fehler durch Verdrängung nicht sieht. Insofern können sich Psychotherapie und Beichte gut ergänzen.
Religion ist aus psychologischer Sicht in der Aufarbeitung der Schuld sicherlich hilfreich. Die religiöse Beichte ist der Ort, der das Aussprechen der Schuld ritualisiert möglich macht und göttliche Vergebung gewährt. Umkehr und Neubeginn werden dadurch erleichtert, hartnäckige antisoziale Verhaltenschemata können so vom Klienten durchbrochen werden. Der Mensch wird durch Religion dann besser, wenn er sich in ihr Wertesystem einordnet, statt es nach seinen antisozialen Neigungen und moralischen Defekten umzuschreiben. Dadurch wird er mehr Mensch, wächst über sich hinaus und weicht seine störenden Verhaltensmuster auf.
Religiöse Gebote harmonieren im Idealfall mit dem Gewissen und bewahren durch die unbestechliche Formulierung vor moralischen Irrwegen, denen der Mensch in seiner Schwäche folgen will. Diese Irrwege haben oft selbst ungesunde psychische Folgen. Religiöse Gebote schützen aber auch vor eigenen seelischen Abgründen mit entsprechendem Selbstbetrug, wie das Beispiel der Pädophilie anschaulich klarstellt. Dieser doppelte Schutz wirkt dann nicht, wenn man sich der Religion nur heuchlerisch bedient, statt sich ihr unterzuordnen.
FALL 40: Eine 19-jährige Psychologiestudentin kommt in einem emotionalen Ausnahmezustand mit einem Akuttermin in die psychiatrische Praxis und bittet unter Tränen: »Machen Sie mir die Schuldgefühle weg.« Der Psychiater fragt nach dem Grund ihrer Schuldgefühle. Sie antwortet verzweifelt, dass sie den nicht genau wisse. Aber die seien halt seit der Abtreibung gestern einfach da. Sie ist sichtlich irritiert durch eine scheinbare Fehlfunktion ihres »psychischen Apparats« und kann sich nicht erklären, woher solche intensiven negativen Gefühle plötzlich stammen könnten. Sie sei im links-alternativen Milieu groß geworden, auch ihre Mutter habe mehrere Abtreibungen hinter sich. Es war ihr nicht erklärlich, woher ihr Über-Ich diese kruden Skrupel bezieht. Auch sei sie kein bisschen religiös, nicht getauft, wenn auch offen für esoterische Reinkarnationstheorien.
Der Psychiater fragt sie, wie sie sich das vorstelle, dass er ihr diese Gefühle jetzt wegmachen solle. Sie meint, mit einem Gespräch. Er ist gerne dazu bereit. Fast zwei Stunden sitzen die beiden zusammen, und der Psychiater hört ihr zu, wie sie über Leben, Tod, Ewigkeit, das Geschenk des Lebens, das Böse und sogar die Existenz eines höheren Wesens spricht – und vor allem über Schuld, Schuld, Schuld. Wie sie ihren Freund betrogen habe, ihre Mutter belogen, in der Schule eine Lehrerin fertiggemacht, die später Krebs bekommen habe. Sie erzählt dem Psychiater alles – alle dunklen Seiten ihres Lebens. Der Psychiater sieht ihr in die Augen und weiß, dass er die Schuld, die sie da so existenziell wahrnimmt, nicht relativieren darf. Er nimmt sie ernst in ihrer Schuld, die sie auf sich geladen hat, teilweise ohne es zu wissen. Nach zwei Stunden fährt sie dann nach Hause, viel ruhiger und sehr dankbar, dass sie alles abladen konnte.
ANALYSE: Es tut gut, seine schuldhaft erlebten Handlungen bei einem Unbeteiligten abzuladen, zu »beichten«. Dabei erwartet man vom Gegenüber, ernst genommen zu werden, also gerade kein Bagatellisieren der Schuld. Es tut gut, gemeinsam die Schuld zu betrauern.
ZUSAMMENFASSUNG: Der psychodynamische Prozess der Reue besteht
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