Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
hier nach ihrem Sinn fragen, so ist damit auch schon gesagt, dass es uns nicht um eine psychologische oder psychiatrische, sondern um eine geistige Angelegenheit geht.«
Ein Psychiater, der selbst im Konzentrationslager war und dort viel Unrecht erleiden musste, hat sich recht weit in dieses geistige Gebiet vorgewagt: Viktor Frankl. Er hat das »Leiden am sinnlosen Leben« beschrieben und damit eine neue Tür für die Psychotherapie aufgemacht. Jeder Mensch braucht einen Sinn im Leben, ein Ziel, eine Richtung. Auch im Leiden. Und doch stellt er klar, dass der Therapeut dem Patienten nicht einen Sinn aufs Auge drücken kann, weder den Sinn des Lebens noch den Sinn des Leidens. Therapie ist dazu da, dem Patienten bei seiner Entdeckung des Sinns zu helfen, quasi als Geburtshelfer.
FALL 44: Die 35-jährige schizophrene Patientin Theresia G., bereits seit Jahren in Invaliditätspension, kommt zur erkrankungsspezifischen psychotherapeutischen Begleitung. Sie habe bis zum Krankheitsausbruch Medizin studiert, danach keine Prüfung mehr gemacht, aber wolle »nach der Heilung« das Studium fortsetzen. Medikamentös ist sie gut eingestellt, hat weder Halluzinationen noch Wahnvorstellungen. Frau G. habe aber ein spezielles Problem. Seit Jahren spucke sie vier bis fünf Stunden pro Tag in Taschentücher, weil ihr das das Gefühl gebe, ihre Leiden aktiv mindern zu können. Diese Taschentücher falte sie dann nach einem bestimmten Ritual zusammen. Wenn sie mit dem Therapeuten darüber rede, erkenne sie klar, dass das alles eigentlich völlig sinnlos sei. Aber keine Medikamente und keine Therapie hätten das bisher ändern können. Sie lebe mit ihren 70-jährigen Eltern in einem Haus und könne ihnen nicht helfen, »solange ich krank bin«. Nach der Heilung wolle sie dann als Ärztin arbeiten, heiraten und Kinder kriegen. So lange müsse sie halt noch warten. Die Eltern seien ob dieses Verhaltens unglücklich und besorgt, da sie Hunderte Packungen Papiertaschentücher pro Woche verbrauche, und wiesen sie neuerdings an, ihre Spucktätigkeit auf Klopapier zu verrichten. Dieses Papier werde dann innerfamiliär weiterverwendet.
In der Therapie erkennt die Patientin schnell, dass sie im Moment hauptsächlich daran leidet, sinnlos zu sein. Solange ihr Leben subjektiv keinen Sinn hat, wird sich auch ihr Spuckverhalten nicht ändern, so folgert sie. Auch ihre Hoffnung auf eine spätere Genesung der Schizophrenie ist der Veränderung des Alltags nicht förderlich. In der Therapie geht man auf die Suche nach einem Sinn im Leben. Sie kann entdecken, dass sie eigentlich im Haushalt helfen könnte. Ihre 70-jährige Mutter würde das entlasten, und sie hätte eine zweifellos sinnvolle Tätigkeit. Letztlich kommt sie auf die Formel »Helfen statt spucken!«. Nach zwei Monaten stellt sie das jahrelange Spuckverhalten ein. Die Patientin ist froh, die Eltern sind euphorisch.
ANALYSE: Ein Sinn – der Mutter im Haushalt helfen – hat Frau G. von ihren Verhaltensperseverationen losbringen können, die oft psychopharmakologisch therapieresistent sind. Selbstloses Tun um einer anderen Person willen ist ein starker Motor für Verhaltensänderungen.
Die konfessionell ungebundenen »Anonymen Alkoholiker« verwenden gezielt allgemeine Religiosität, um Verlusterlebnisse anders als mit Alkohol zu bewältigen: »Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.« Tatsächlich, die Religionen haben jahrtausendelange Erfahrung im Umgang mit Schicksalsschlägen. Die Resilienz steigt mit der Religiosität, das hat die Coping-Forschung von Kenneth Pargament, Psychologe an der Bowling Green State University, eindrucksvoll bewiesen. Das ist auch irgendwie logisch: Der religiöse Mensch weiß, dass es hier auf Erden keine absolute Gerechtigkeit gibt. Damit kann der Gottgläubige vielleicht gelassener irdisches Unrecht ertragen, und sein inneres Stehaufmännchen wackelt etwas sanfter bei traumatisierenden Schicksalsschlägen.
Je mehr man seinen persönlichen Anteil an einem Schaden erkennt, desto leichter ist es, mit den schmerzhaften Folgen fertigzuwerden. Teilschuld nennt man das in der juristischen Sprache. Damit ist der Stachel des Schicksalsschlags gezogen: Es gibt weder einen Grund zu Aggression noch einen zur Verbitterung. Daraus folgt, dass es psychisch hilfreich ist, seine eigene Schuld zu betrachten, vor seiner eigenen
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