Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
Menschen, die haben in langen Sitzungen gelernt, sich selbst zu verstehen. Sie können sehr genau erklären, warum sie in einem Streit so, genau so und nicht anders reagieren mussten. Sie haben kein Verständnis für die Position des Partners, auch kein Interesse daran, aber können sich wunderbar selbst verstehen. Der Einzige, mit dem sie wirklich Empathie haben, sind sie selbst. Der Begriff der Selbstempathie ist aber ein Paradoxon, denn diesen Menschen fehlt in Wirklichkeit jegliche Empathie mit ihren Nächsten. Einfühlen kann man sich nur in einen anderen – in sich selbst ist man ja ohnehin schon.
Selbstempathie ist verwandt mit Wehleidigkeit, Sentimentalität und Selbstmitleid. Alkoholiker zum Beispiel – lassen wir bezüglich Alkoholismus einmal die Diskussion um dessen Gene und Determiniertheit beiseite – wollen wirklich gerne aufhören: wenn es nicht weh tut. Sie haben – abgesehen von ihrer körperlichen Suchterkrankung – unendlich viel Geduld mit sich selbst und bringen auch viel Verständnis für sich auf. Erst wenn dieser Teufelskreis aus Selbstempathie, Wehleidigkeit, Sentimentalität und Selbstmitleid durchbrochen wird, ist Abstinenz möglich. Meist kommt noch therapieerschwerend Selbstbetrug dazu – etwa was die tatsächliche Alkoholmenge betrifft oder die Frage, ob sie da jemals alleine wieder herauskommen. Gerade die Therapie von Alkoholikern ist ein gutes Beispiel dafür, dass nur mit einem Eingeständnis »ja, ich bin Alkoholiker« eine zielführende Therapie möglich ist. Auch der Erfolg der Anonymen Alkoholiker, die als die effektivste Selbsthilfegruppe gelten, ist durch das immer wiederkehrende Eingeständnis »ich bin Alkoholiker« zu erklären – und das auch dann, wenn er schon über zehn Jahre trocken ist.
Der Vollständigkeit halber und um der wissenschaftlichen Redlichkeit willen soll hier auch erwähnt werden, dass in den moderneren Konzepten der Psychotherapie der Begriff »Selbst« vom »Ich« abgegrenzt wird. Mit »Selbst« meinen dann manche Autoren einen tiefen, transzendenzoffenen Kern, den sie als eigentlichen Keim der Person verstehen. Selbstverwirklichung ist aus diesem Verständnis dann nicht plumpe Ichhaftigkeit, sondern Ich-Transzendierung, was die Türe zur Religiosität öffnet. Auch der Begriff »Selbstempathie« hat dann nach dieser Lesart die Bedeutung der Einfühlung ins Selbst, als Brücke zur Transzendenz. Aber diese neuen Konzepte, die ein freieres Menschenbild ermöglichen, haben vorläufig noch nicht den psychotherapeutischen Mainstream und schon gar nicht den Mann auf der Straße erreicht.
Selbstbetrug und Lebenslügen
»Wir haben es nicht gerne, wenn uns jemand an die Verlogenheit unserer eigenen Welt erinnert. Unsere Welt ist die wahre Welt; verrückt, verlogen, illusorisch, verschoben sind die Welten der anderen.« Paul Watzlawick brachte es in seiner »Anleitung zum Unglücklichsein« auf den Punkt: Selbsterkenntnis und richtige Selbsteinschätzung sind selten gesät, Selbstbetrug und Lebenslügen dagegen an der Tagesordnung.
Prächtig gedeihen Unschuldslämmer erst mit einer gehörigen Portion Selbstbetrug. Die hohe Kunst des Selbstbetrugs hat oft auch mit Narzissmus, Ichhaftigkeit und überhöhtem Selbstwertgefühl zu tun. Es ist wirklich erstaunlich, wie häufig Menschen sich selber falsch einschätzen, wie dramatisch oft die Fremd- und Eigenwahrnehmung auseinanderklaffen, wie Daniel Goleman in seinem Bestseller »Lebenslügen« so anschaulich beschrieben hat. Psychiater treffen immer wieder auf regelrechte Meister des Selbstbetrugs, die sich in ihrem Selbstbild schon meilenweit von der Realität entfernt haben. Das kann bis zur Hochstapelei und zum notorischen Lügen anwachsen – denn am glaubwürdigsten lügt natürlich derjenige, der sich die Geschichte selber glaubt.
Ein Musterbeispiel für Selbstbetrug bietet uns der Held in Fjodor Dostojewskis »Schuld und Sühne«, der Student Rodion Romanowitsch Raskolnikow. Die Dienstmagd Nastassja arbeitet ihn heraus: »Du bist ein Schlauer, aber warum liegst du da wie ’n Sack und bringst nix zustand? Früher, sagste selbst, biste rausgegangen und hast Kindern was beigebracht, und warum tuste jetzt nichts mehr?« – »Ich tue etwas«, stieß Raskolnikow widerwillig und düster hervor. »Und was tuste?« – »Ich arbeite …« – »Was arbeitest du?« – »Ich denke«, antwortete er ernsthaft, nachdem er eine Weile geschwiegen hat. Nastassja wollte sich ausschütteln vor Lachen. Sie
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