Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
nicht dagegenstellt. Die innere Hierarchie kippt schließlich, wenn der Selbstbetrug einsetzt, der etwa vorgibt: »Wahrscheinlich würde es meiner Ehe besser tun, wenn ich emotional stabiler wäre …« Oder es setzt der Mechanismus der Bagatellisierung ein: »Es ist gar nicht so schlimm, wir halten uns ja nur an der Hand …«, und eine eindeutig erotische Beziehung wird als »platonisch« verharmlost. Der Mechanismus der Rationalisierung lautet dann so: »Ich brauche das jetzt. Endlich kümmert sich jemand emotional um mich.« Oder man fühlt sich verantwortlich für die Person, mit der man die außereheliche Beziehung eingegangen ist – die Verantwortung gegenüber dem Ehepartner ist plötzlich nicht mehr auf dem inneren Bildschirm –, und daher »moralisch verpflichtet«, diese Beziehung aufrechtzuerhalten. Erst wenn der Ehepartner den Betroffenen zur Paartherapie schleppt, kommen solche unbewussten Mechanismen mit ihrer Pseudologik ans Tageslicht.
Im Vorfeld von Handlungen, die den eigenen Prinzipien zuwiderlaufen, baut sich oft langsam der Selbstbetrug auf. So beim bereits erwähnten traurigen Helden von »Schuld und Sühne«, Rodion Raskolnikow: Vor dem Raubmord, der das Buch bestimmt, entwickelt er seine Theorie von den »außergewöhnlichen« Menschen, die im Sinne des allgemein-menschlichen Fortschritts natürliche Vorrechte vor den anderen genießen. Er selbst, jung und talentiert, doch mit Armut geschlagen, sieht sich als solchermaßen Privilegierten. Daraus entwickelt sich schließlich die Idee eines »erlaubten Mordes«. Thema des Buches ist, dass der Selbstbetrug letztendlich keinen Bestand hat, dass das Gewissen stärker ist.
»Der Besuch der alten Dame« von Friedrich Dürrenmatt zeigt den Selbstbetrug in tragikomischer Version, wenn auch mit einem in Moralinsäure getunkten erhobenen Zeigefinger. Die Milliardärin Claire Zachanassian besucht ihren Geburtsort Güllen, um Rache für ein altes Unrecht zu nehmen. Sie macht ihrem Heimatdorf ein »unmoralisches Angebot« und bietet eine Milliarde für die Tötung Alfred Ills, der sie damals schwanger im Stich gelassen hat. »Gerechtigkeit für eine Milliarde.« Entrüstet lehnen die Dorfbewohner ab. Aber die Verführung bleibt präsent. Keiner will sie entschieden abweisen. Ein innerer Dialog mit der Versuchung beginnt. Alle Dorfbewohner glauben sich weiter mit Ill solidarisch und erklären ihn sogar zum beliebtesten Bürger der Stadt. Andererseits entwickelt sich in ihnen – für den Außenstehenden offensichtlich, für sie selbst ins Unbewusste verdrängt – die Gier nach dem Wohlstand, und sie liebäugeln immer offensichtlicher mit dem Bauernopfer. Schließlich ist Ill mürbe. Stolz lässt der Bürgermeister in der Presse verkünden, Frau Zachanassian habe durch Vermittlung ihres Jugendfreundes Ill der Stadt eine Milliardenstiftung geschenkt. Vor laufenden Kameras stimmen die Bürger über Annahme oder Ablehnung der Stiftung ab, also eigentlich über die Tötung. Die passiert dann anonym. »Herzschlag« und »Tod aus Freude« sind die Kommentare von Amtsarzt und Bürgermeister. Die Presse übernimmt diese Version.
ZUSAMMENFASSUNG: Je mehr man seine Schuld verdrängt, desto mehr verliert man das Du aus den Augen. Aber im Ich gefangen, wird der Mensch nicht glücklich. Das »Futter« des Unschuldslamms zeigt, welche psychologischen Mechanismen verhindern, dass jemand seinen eigenen Handlungsspielraum wahrnimmt, indem die Schuld abgewälzt, umgedeutet und verdrängt wird.
3. Kapitel
Einer muss ja schuld sein: Opferkult und Fremdbeschuldigung
Franz Moor auf der Couch
A ls Psychiater gewinnt man manchmal den Eindruck, in einem Land von verhinderten Bundespräsidenten, Nobelpreis- und Oscar-Preisträgern zu leben. Das beeindruckt. Was für glanzvolle Karrieren sind da von bösen Mächten im buchstäblich letzten Moment verhindert worden! In jeder psychotherapeutischen Praxis tummeln sich die überdurchschnittlich Intelligenten und Hochbegabten, die von ihren Neidern böse bedrängt werden. All die überdurchschnittlichen Genies wurden natürlich durch irgendetwas oder irgendjemanden ausgebremst, denn sonst wären sie ja schon dort, wo sie hingehörten: ganz oben.
Watzlawick muss bei seinen Patienten ähnliche Erfahrungen gemacht haben: »Was uns Gott, Welt, Schicksal, Natur, Chromosomen und Hormone, Gesellschaft, Eltern, Verwandte, Polizei, Lehrer, Ärzte, Chefs oder besonders Freunde antaten, wiegt so schwer, dass die bloße Insinuation,
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