Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
muss ja wohl eine hochgradige Selbstwertproblematik resultieren. Franz kann sich darum selbst nicht ausstehen. Er denkt viel über sich nach und sieht an sich ständig die »Bürde der Hässlichkeit«: seine »Lappländernase«, das »Mohrenmaul« und seine »Hottentottenaugen«. In seinen häufigen und langen Monologen beklagt er die von ihm empfundene Unzulänglichkeit wieder und wieder und versucht sie so aufzuarbeiten. Doch vergebens. Das tief eingepflanzte jämmerliche Selbstbild ist nicht von allein entstanden. Und so müssen wir therapeutisch vermuten, dass unser Patient ebendiese abwertenden Zuschreibungen oftmals aus anderem Munde erfahren hat müssen. Wer kann da schuld sein? Der Vater. Der Bruder. Die Mutter sicher auch, denn die ist zu früh gestorben. Franz Moor ist das Opfer seiner mangelnden Selbstliebe.
Franz distanziert sich im Laufe des Stücks immer stärker von seinem Vater und seinem Bruder. Er verweigert ihnen – aus Selbsterhaltungstrieb – die »Blutliebe«. In seinem Monolog am Ende der ersten Szene des ersten Aktes formuliert er, die Liebe zu Familienangehörigen sei nicht zwingend, da er nur das zufällige Resultat einer Zeugung sei. So rechtfertigt er selbst die väterliche Vernachlässigung und zeigt auf diesem Weg indirekt, wie sehr er doch unter den Zuständen gelitten haben muss. Als Kind hat er nach Liebe gesucht – die ist ihm verweigert worden. Franz wird mehr und mehr zum reinen Kopfmenschen, um den Schmerz der ständigen emotionalen Ausgrenzung durch Unterdrückung der hierbei aufkommenden Gefühle zu kompensieren. Franz Moor ist das Opfer eines chronischen Liebesentzugs.
Noch weitere Personen aus seiner unmittelbaren Umgebung sind ihm gegenüber feindlich gesinnt und bringen ihre Antipathie offen zum Ausdruck. Nehmen wir die im gemeinsamen Haushalt lebende junge und begehrenswerte Amalia, die Verlobte des älteren Bruders. Auch sie ignoriert ihn und verweigert ihm sogar das Anrecht auf die Bezeichnung »Sohn«. So bezeichnet sie Karl gegenüber dem Vater als »seinen einzigen Sohn«. Amalia spottet darüber, dass bei Verstoßung ihres Verlobten der Vater am Totenbett »die eiskalte Hand seines Franzens fasst«. Somit wird Franz sogar die Fähigkeit abgesprochen, den Bruder ersetzen zu können, in dieser Familie von Bedeutung zu sein und dem Vater beizustehen. Diese Frau erdreistet sich, einem Sohn das Gefühl der eigenen Notwendigkeit zu enthalten. Franz Moor ist also auch das Opfer seiner zurückweisenden Schwägerin.
Doch Franz entdeckt seine Gefühle! Er empfindet Liebe ausgerechnet für ebendiese Amalia. Doch er merkt, dass die Verlobte seines älteren Bruders erstaunlicherweise diese Gefühle nicht erwidern kann. Diese Ablehnung führt er verständlicherweise auf denselben imaginären Grund zurück, aus dem er von seinem Vater keine Geborgenheit erhalten hat: seine Hässlichkeit. Franz hadert: »Aber ist es nicht ungerecht, einen Menschen um seiner siechen Außenseite willen zu verdammen? Auch im elendesten äsopischen Krüppel kann eine große, liebenswürdige Seele wie ein Rubin aus dem Schlamme glänzen. Auch auf blattrigen Lippen kann ja die Liebe blühn.« Dies ist Franz’ leidenschaftlicher Appell an Amalia. Sein Versuch, einen Grund für den Liebesentzug zu finden, ist psychologisch durchaus verständlich. Franz versucht seine Ähnlichkeit mit seinem älteren Bruder herauszustreichen, um die begehrte Frau zu gewinnen: »Du bist, sag ich oft zu mir selber, ja, du bist der ganze Karl, sein Echo, sein Ebenbild«. Doch hartherzig schüttelt die junge Frau den Kopf »Nein, nein, bei jenem keuschen Lichte des Himmels! Kein Äderchen von ihm, kein Fünkchen von seinem Gefühle.« Ob die Dame wusste, welchen irreversiblen Schaden sie in diesem Moment in der zarten Seele unseres Patienten anrichtet? Er offenbart seine Gefühle vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben und wird kalt zurückgewiesen. Franz wagt es, ihr den Grad seiner Verletztheit rückzumelden: »Du beleidigst mich« und »Du hassest mich«. Auch diese Offenheit verletzt sie in unfassbarer Härte: »Ich verachte dich, geh!« Womit sie ihn mit der Aufforderung »Geh!« nicht nur körperlich, sondern auch emotional von sich stößt. Franz Moor ist auch noch das Opfer einer missglückten ersten sexuellen Erfahrung.
Bei Franz Moor können wir unschwer die ideale Mischung aus Ichhaftigkeit, Selbstwerterhöhung, Narzissmus, Selbstempathie, Wehleidigkeit, Sentimentalität, Selbstmitleid, Lebenslüge,
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