Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
Fehlerlosigkeit, Perfektionismus, Selbstbetrug und Fremdbeschuldigung feststellen. Auf diesem Humus gedeiht das unschuldige Opfer bestens – und dieses entschuldigt im Vorhinein seine reflexhaften Taten als Abwehr allen Missbrauchs seit der frühesten Kindheit. Dank unserer in der Zwischenzeit gewonnenen therapeutischen Einsichten können wir deshalb gut verstehen, dass Franz das Entschuldigungsschreiben des Bruders an den Vater fälscht, so gegen den Bruder intrigiert, ihm die Existenz entzieht und in die Räuberbande stößt, sich die Erbschaft erschleicht, seine Schwägerin sexuell belästigt und den Vater schließlich verhungern lässt.
Das Fehlen der dritten Dimension
Die Franz-Moor-Karikatur, die oben mit wenigen Strichen gezeichnet wurde, findet man überraschend häufig in psychotherapeutischen Praxen wieder. Franz ist »Opfer« seines melancholischen Temperaments, seines sanguinischen Bruders, seiner eigenen Gutmütigkeit (die kann man ihm wohl kaum zum Vorwurf machen!), der Geschwisterfolge, seines abweisenden Vaters und seiner früh verstorbenen Mutter, seiner mangenden Selbstliebe (auch hier: Vorwurf unmöglich), eines chronischen Liebesentzugs, der zurückweisenden Schwägerin und einer missglückten ersten sexuellen Erfahrung. Zusammengefasst scheint es, dass sich alles und jedes schicksalhaft und feindselig gegen unseren Patienten verbündet hätte. Franz Moor bewegt sich zweidimensional im Koordinatensystem von Fremdbeschuldigung und Selbstmitleid. Die dritte Dimension – seine Freiheit, sein Beitrag an der Situation, seine eigene Schuld – entgeht ihm.
Die oben dargelegte zweidimensionale Interpretation seiner Situation rechtfertigt jede noch so feindselige Handlung als tapfere Notwehr. In der Tat kann mit diesem Mechanismus jeder dunkle Fleck in der eigenen Biographie meisterhaft vor dem eigenen Gewissen kaschiert werden. Die großen Gemeinheiten, zu denen selbsternannte Opfer fähig sind, bringen sie allerdings nicht mit in die Therapie, die muss der Therapeut zwischen den Zeilen herauslesen. So mancher arme, gequälte Ehemann muss notwendigerweise von seiner Sekretärin getröstet werden, damit er das alles emotional übersteht. In der optimalen Konstellation vergeht die Konkubine sogar vor Mitleid mit dem hilflos leidenden Mann und tut alles in ihrer Macht Stehende, damit ihm wenigstens etwas Linderung widerfährt. Doppelter Selbstbetrug: er ist das Opfer, sie die Wohltäterin. Hier zeichnet sich schon die enge Verbindung zwischen dem kunstvollen Sprung in die Opferrolle und der Fremdbeschuldigung ab. Beide sind organisch miteinander verwoben, sollen aber zur gründlichen Analyse kurz getrennt betrachtet werden.
Der ultimative Selbstbetrug: »Ich bin ein Opfer«
Jugendliche sind manchmal sehr empfindlich für das, was die Erwachsenenwelt mit allzu viel Pathos und Moralinsäure überzieht und jegliche Kritik daran tabuisiert. Wahrscheinlich spüren sie das Unechte, Überzogene – den Selbstbetrug. Die Selbstdarstellung als Opfer ist so ein Beispiel. Sie hat in unseren Landen derart überhandgenommen, dass »Opfer« (oder neuhochdeutsch sogar manchmal »Opfa«) in der Jugendsprache bereits zum Schimpfwort degradiert ist. Damit wird untereinander Wehleidigkeit verspottet. Opfer wird hier synonym für »Versager« verwendet. In meiner Schulzeit rief man: »Loser! (englisch: Versager)«, das war auch nicht viel besser. Man kann sich jetzt moralisch entrüsten, wie gemein die heutige Jugend ist. Man kann sich aber auch fragen, ob wir als Gesellschaft den Opferkult nicht dermaßen überzogen haben, dass sich die Jugend schon darüber lustig macht. Und tatsächlich kann man sich ja heute kaum noch eine Talkshow anschauen, ohne dass ein selbstdiagnostizierter Traumatisierter seine Leidensgeschichte erzählt. Bei Menschen mit gesundem Hausverstand poppt dann reflexartig die Frage auf: Gibt es da nicht noch eine andere Sicht zu der G’schicht? Die Psychodynamik des Opferkults besteht darin, dass dabei nicht gefragt werden darf, ob es da vielleicht auch noch eine zweite Seite gebe. Audiatur et altera pars (»Man höre auch die andere Seite«) – dieses alte Prinzip aus dem römischen Recht ist der medialen Sensationsgier und Lynchjustiz ein Greuel.
FALL 12: Herr Rupprecht D., Tischler, 27 Jahre alt, kommt zum Erstgespräch, weil er das Vertrauen in seine bisherige Therapeutin verloren habe. Warum? »Sie müssen sich vorstellen, die Therapeutin hat mit mir geredet, eine ganze Stunde lang –
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