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Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)

Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)

Titel: Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raphael M. Bonelli
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und zwei Wochen später habe ich einen Selbstmordversuch verübt!« Was er daraus schließe? »Natürlich, dass sie eine schlechte Therapeutin ist – sonst wäre das nicht passiert. Das hätte sie verhindern müssen. Ein Selbstmordversuch!« Er sei ein Opfer der Therapeutin, nur durch äußerstes Glück sei er noch am Leben. Es stellt sich heraus, dass der Patient mit der Therapeutin in einem Therapievertrag vereinbart hatte, im Fall einer Verschlechterung sofort eine psychiatrische Ambulanz aufzusuchen. Das zu tun habe er nicht für nötig erachtet. Der Psychiater fragt ihn, ob er als sein neuer Therapeut ab sofort verantwortlich sei, wenn der Patient den nächsten Suizidversuch verübe. Das macht den Patienten nachdenklich. Schließlich kann er auch ein wenig Eigenverantwortung annehmen.

ANALYSE: Für den Patienten gilt unverrückbar, dass er für sein Handeln keine Schuld trägt. Also muss die Therapeutin schuld sein. Oder sonst irgendwer.
    Der Soziologe Manfred Prisching hat in seinem Buch »Die Bluffgesellschaft« eine amüsante Opfer-Litanei komponiert:
»Es kann vorteilhaft sein, sich als Opfer darzustellen. Deshalb ist auch der ›Opferbluff‹ attraktiv. Frauen als Geschlecht sind ohnehin Opfer, Benachteiligte, Diskriminierte. Ausländerinnen und Ausländer sind Opfer. Autofahrer sind Opfer, weil sie vom Staat finanziell ausgenommen werden. Fußgänger sind Opfer der Autofahrer und Radfahrer. Nichtraucher sind Opfer der Raucher, und Raucher sind Opfer der Nichtraucher, weil sie jetzt in der Kälte stehen müssen. Jugendliche sind Opfer der Getränkeindustrie, die ihren Fruchtsaft mit Alkohol verkauft. Bauern sind Opfer, weil ihnen die großen Förderungen der EU gestrichen werden. Alleinerziehende sind Opfer, da bedarf es keines Nachweises. Die Alten sind Opfer, weil sie scheel angesehen werden. Die Jungen sind Opfer, weil sie keine Pension mehr bekommen werden, und die Personen im mittleren Alter sind Opfer, weil sie Junge und Alte erhalten müssen. Eltern bringen das Opfer, zukünftige Zahler für die Sozialversicherung bereitzustellen. Singles sind Opfer, weil sie Singles sind. Studierende sind Opfer, wenn sie Studiengebühren zahlen müssen; aber sie sind auch Opfer, wenn sie keine zahlen müssen, weil sie dann zum sorglosen Umgang mit der Zeit verführt werden. Wer kein Opfer ist, der ist deswegen ein Opfer, weil er alle anderen Opfer bezahlen muss. Je mehr man Opfer ist, desto besser kann man sich dem Marktdruck entziehen. So lassen sich multiple Opfer-Identitäten aufbauen, die Opfer-Lage lässt sich maximieren. Wenn man weiß, dass die ganze Welt so gemein zu einem ist, dann kann man ganz komfortabel leben.«
    Prisching spielt auf den hohen sozialen Status des Opfers in der heutigen Gesellschaft an. Auf jemand anderen mit dem Finger zu zeigen kann finanzielle oder andere Vorteile zur Folge haben – ein Mechanismus, der heute sozial belohnt wird.
    Auf psychiatrischen Stationen erlebt man immer wieder, dass durch das Outing eines Patienten als Opfer die Aufmerksamkeit der ganzen Station reflexartig auf ihn gerichtet wird – bis sich sämtliche Zimmerkollegen dunkel erinnern, dass da in ihrer Vergangenheit auch etwas war. Junge Kollegen fühlen sich oft versucht, als Geburtshelfer zu fungieren und eine weitere Sensation an die Oberfläche zu befördern. In der Tat kann so etwas für einen Therapeuten verlockend sein, besonders wenn man dramatisch veranlagt ist. Es gibt das wissenschaftlich bereits analysierte Phänomen, sich an etwas zu erinnern, was so gar nicht stattgefunden hat. Bereits 1886 beschrieb dies der große Psychiater und Hirnforscher Emil Kraepelin als »Erinnerungsverfälschung«. Die klassischen medizinischen Termini »Konfabulation« und »Suggestibilität« bezeichnen ähnliche Phänomene. In der Forschung lässt sich heute auch experimentalpsychologisch beweisen, dass Erinnerungen keine objektiven Wiedergaben der Wirklichkeit sind. Lassen Sie sich denselben Sachverhalt von drei Augenzeugen beschreiben, und Sie wissen, was ich meine.
    Derzeit wird in der Wissenschaft der Begriff »False Memory« nicht gerade emotionsfrei diskutiert. Gemeint ist eine Schlussfolgerung in Form einer Suggestivfrage, die in der psychotherapeutischen Situation vom Therapeuten mit seiner Autorität als Experte angeboten wird. In der Folge muss der Klient, der in einem Abhängigkeitsverhältnis steht, in seiner Erinnerung kramen, um aus dem Unbewussten das herauszufischen, was der Therapeut vermutet.

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