Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
anders hatte ich mir dieses Land nicht vorgestellt. Mein Mann hat mich gleich wieder unter Druck gesetzt. Ich musste sofort eine Arbeit finden, damit wir mehr Geld haben. Ich musste sofort Gegenessenseinladungen geben an eine Wienerin (eine Arbeitskollegin, die er gehasst hat), die uns auch eingeladen hat. Ich musste sofort Kontakte knüpfen, damit wir Gesellschaft haben. Er hat aber nicht nur Druck gemacht, es war von Anfang an eine rohe, lieblose Kritik da. Ich habe in dieser Zeit sehr viel geweint und mich gefragt, in welchen Alptraum ich da hineingeraten bin. Mein Mann war aggressiv (verbal), er hat sich in der riesigen Gratisluxuswohnung überhaupt nicht wohl gefühlt, war ruhelos, hat ständig nur über die Wiener geschimpft (Lieblingsbeschäftigung von Wien). Ich habe teilweise den Eindruck gehabt, mit einem Geistesgestörten verheiratet zu sein. Eine Arbeit habe ich relativ schnell gefunden – als Deutschlehrerin in einem muslimischen Kindergarten, wo ich für ein Taschengeld gearbeitet habe. Ich war aber froh, irgendetwas zu haben, um nicht mehr wegen Nichtarbeiten kritisiert zu werden. Kontakt zu anderen Menschen herzustellen war auch kein Problem. Auch die Einladung habe ich hingekriegt, aber das Herumnörgeln hat nicht aufgehört – bis heute.«
Der Psychiater färbt diesen Brief mit zwei Farben auf jeweils zwei Arten: Fremdbeschuldigend: rote Texthervorhebung. Selbstzufrieden: rote Schriftfarbe. Positive Aussagen über den Mann: grüne Texthervorhebung. Selbstkritisch: grüne Schriftfarbe. Wie Sie sich vorstellen können, ist der Brief tiefrot. Da findet sich nur eine kleine grüne Insel auf der ersten Seite, wo Frau K. schildert, wie sie ihren Mann kennenlernte. Im gesamten Brief findet sich nirgends ein Wort mit grüner Schriftfarbe. Kaum auch weiße Felder, also neutrale Sachinformationen. Der Psychiater schickt ihr die eingefärbte Analyse elektronisch und bittet sie, den Brief so umzuschreiben, dass sich Grün und Rot die Waage halten. Kritik kann, darf und muss man in der Ehe üben, aber wenn es so knüppeldick kommt, ist es nicht mehr zu ertragen. Auch in einer Ehe gilt: »Man fängt mehr Fliegen mit einem Tropfen Honig als mit einem Fass voll Essig.«
Ihr zweiter Versuch hat eine deutlich ausgeglichenere Tönung: 70% rot, 30% grüne Texthervorhebung – aber noch immer keine grüne Schriftfarbe. So ging der E-Mail-Wechsel eine Zeitlang hin und her. Beim ersten Treffen erarbeitet Frau K. den Ansatz einer Selbstkritik. Der Psychiater versucht, Humor ins Spiel zu bringen – das ist gar nicht leicht. Was für eine Freiheit, wenn man über sich selber lachen kann! Durch ihre grünen Entwicklungen jedenfalls erstaunt sie ihren Mann zunehmend und ermöglicht eine (grüne) Verhaltensänderung auf seiner Seite – die wiederum sie beglückt. Die Eheleute beginnen sich wieder ohne Vorwürfe zu begegnen. Und nach zwei Sitzungen und einigen E-Mails ist das Schiff tatsächlich wieder in Fahrt und die Ehe neu begrünt.
ANALYSE: Selbstzufriedene Fremdbeschuldigung ist keine gute Basis für partnerschaftliche Kritik. Kritik muss in einer Ehe möglich sein, aber die ist leichter verdaubar in Kombination mit Selbstkritik und Wohlwollen. Aus der Position des Fehlerlosen wird Kritik leicht zur Vernichtung.
Fremdbeschuldigung funktioniert natürlich auch für Gruppen, Staaten und Völker: Kollektive Fremdbeschuldigung war die Ursache von Nationalismus und von vielen Kriegen. Vor dem Ersten Weltkrieg wurden Mythen der Erbfeindschaften erfunden und gezüchtet, so dass 1914 die Massen begeistert gegen den bösen Nachbarn in diesen sinnlosen Krieg zogen. Sind Menschen frustriert oder unglücklich, so richten sie ihre Aggression oft auch innerhalb von Staaten und Gesellschaften auf Gruppen, die unbeliebt, leicht identifizierbar und machtlos sind: auf »Sündenböcke«. Dies kann durch Machteliten und mittels einer medial verbreiteten Ideologie geschehen. Häufig wird dann die Anfälligkeit des Menschen für den jeweiligen selbstgerechten Zeitgeist verwendet (»Heute denkt man …«), um die Massen zu manipulieren. Eine solche Projektion auf einen Sündenbock kann für die Bevölkerungsmehrheit identitätsstiftende Funktion bekommen. Die Nazis machten das mit den Juden, die plötzlich am ganzen Unglück der Deutschen schuld gewesen sein sollten. Für die Kommunisten waren das kollektiv »die Kapitalisten«. Heute ist man sich oft rasch einig, dass die »Ausländer« an vielem schuld seien.
Es gibt nicht nur
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