Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
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ANALYSE: Es ist offensichtlich, wie sehr wir von unseren Organen abhängen, und in vielen Fällen ist es auch subjektiv tragisch. Gerade Funktionseinschränkungen des Gehirnorgans werden von Angehörigen oft so bedrohlich erlebt, dass diese Fakten lieber verdrängt werden.
Intelligenz und Begabungen jedes Menschen sind körperlich beschränkt. Aus der Genetik und durch Erziehung lässt sich zwar einiges machen, aber ein Intellektueller mit zwei linken Händen wird selten ein guter Installateur werden, ein Unmusikalischer wird auch mit noch so viel Üben nicht Wiener Philharmoniker und ein Sonderschulabsolvent kein Nobelpreisträger. Hier des Schicksals Wink mit dem Zaunpfahl nicht hören zu wollen, kann ein Leben in die Sackgasse manövrieren. Diese Feststellung soll natürlich nicht zur billigen Ausrede dienen: »Ich habe eben zwei linke Hände, also muss ich den Wasserhahn nicht reparieren.« Manche Talente schlummern unerkannt, weil sie weder von den Eltern oder Lehrern gefördert noch selbst entdeckt wurden.
FALL 19: Eine 55-jährige Dame begrüßt den Psychiater in seinem Wartezimmer mit den Worten: »Grüß Gott, Herr Kollege!« Das ist in der Psychotherapie unüblich und fällt auf. Frau Dr. T. kommt schnell zur Sache und erzählt dem Psychiater mit Empörung ihre Geschichte. Sie hatte von Kindertagen an den Traum, Ärztin zu werden. »Eine Berufung, wissen Sie, Herr Kollege?« Da das Medizinstudium in ihrer Heimat Ägypten für sie ein schwieriges Unterfangen war, sei sie nach Österreich gezogen. Ihre Eltern, beide Akademiker, und die gesamte Familie hätten ihr abgeraten, da sie nicht sehr sprachbegabt sei und auch sonst nicht die nötigen Voraussetzungen für ein solches Studium mitbringe. Eine Jugendliebe, die sie unbedingt hätte heiraten wollen, verließ sie kurzerhand. Das wäre, so meint sie heute, eine »gute Partie« gewesen.
In Österreich habe sie drei Jahre benötigt, um die Sprache so weit zu lernen, dass sie mit dem Studium beginnen konnte. Schleppend sei es durch das Medizinstudium gegangen, das damals noch keinen Eignungstest kannte. Viele Prüfungen habe sie erst im vierten oder fünften Anlauf geschafft. Langsam sei der Kontakt zu ihrer Familie abgerissen. Sie habe keine Zeit gehabt, Briefe zu schreiben, und obendrein wenig zu berichten. Auch in der Glaubenspraxis habe sie nachgelassen, das habe ihre Mutter gekränkt, die eine gläubige Muslimin gewesen sei. Viele Briefe der Eltern habe sie unbeantwortet liegen gelassen. Mit 33 Jahren habe sie sich in einen zehn Jahre älteren Rechtsanwalt verliebt, der sie vom Fleck weg heiraten wollte. Sie habe aufrichtig geliebt und ihn gebeten, bis zum Ende ihres Studiums zu warten. Da sie aber erst am Ende des ersten Abschnitts gewesen sei und alle klinischen Fächer noch zu absolvieren hatte, habe er schüchtern Zweifel an der Sinnhaftigkeit ihres Unterfangens angemeldet: Sie hätten, so habe er gemeint, ja gemeinsam genug Geld, und außerdem bliebe für die Familiengründung nicht mehr so viel Zeit.
Entrüstet habe sie daraufhin die Verlobung gelöst »Wenn ich mich zwischen meinem Studium und dir entscheiden muss, dann ist die Sache klar. Entweder du liebst mich, wie ich bin, oder wir lassen es. Ich lasse mich doch nicht erpressen!« Noch lange habe der Mann um sie gekämpft, aber sie sei unerbittlich geblieben. Ungefähr zur selben Zeit habe die Herkunftsfamilie nach 15 Jahren die finanzielle Unterstützung beendet, da Frau T. seit Jahren keinen Brief mehr nach Hause geschrieben habe. Nun habe sie zusätzlich Geld verdienen müssen, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Mit 50 Jahren schließlich habe sie es geschafft, zur Doktorin der gesamten Heilkunde zu promovieren. Ihr Vater sei in der Zwischenzeit gestorben, ihre Mutter hochbetagt und dement gewesen, und von ihren Geschwistern habe sie sich vollständig entfremdet. Zu ihrem großen Triumph, der feierlichen Promotion im Festsaal der Universität Wien, sei kein einziger Angehöriger gekommen.
Leider habe auch danach nicht das erhoffte Traumleben begonnen. Sie sei für den »Turnus« (Arzt im Praktikum) in eine Liste eingeschrieben gewesen und vertröstet worden, drei bis fünf Jahre auf den ersten Arbeitsplatz zu warten. Mit Gelegenheitsjobs habe sie sich während dieser Zeit über Wasser gehalten, ihren Doktortitel wie eine Monstranz vor sich her tragend. Schließlich sei es so weit gewesen: Frau Dr. T. durfte als Turnusärztin ihren Dienst beginnen. Doch erschrocken habe
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