Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
vorwegnähmen und damit der menschliche Wille eine Illusion sei. Der Heidelberger Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs, Autor des empfehlenswerten Buches »Das Gehirn als Beziehungsorgan«, kommentiert diese Beweisführung augenzwinkernd: »Es mutet abenteuerlich an, dass die Willensfreiheit ausgerechnet mit einem Experiment widerlegt werden soll, das doch auf der freiwilligen Teilnahme von Versuchspersonen beruht, die ohne ihre Zustimmung ihren Finger nie bewegt hätten.«
Es gibt aber trotzdem bis heute namhafte Proponenten der Neurowissenschaft, etwa den Physiologen Wolf Singer (»Wir sollen aufhören, von Freiheit zu sprechen«) und den Biologen Gerhard Roth (»Wir sind determiniert«), die die Freiheit des Menschen tatsächlich vollständig leugnen. Ihre These ist, dass alles, was in der Menschheitsgeschichte passiert, durch zufällige Funkenbildung im Gehirn bestimmt sei. Hätten sie recht, dann wäre dieses Buch sinn-, zweck- und nutzlos, denn wo keine menschliche Freiheit existiert, da sind Schuld und Verantwortung reine Hirngespinste. Die Rede von Schuld setzt Verantwortung denknotwendig voraus, die Rede von Verantwortung aber zumindest ein Minimum an Freiheit. Auch Liebe wäre nach diesem Menschenbild bloß ein Kurzschluss im Hirn. Sie sehen jedenfalls, wie weitreichend die Frage nach der Freiheit des Menschen – ein philosophischer Dauerbrenner seit der Antike – für unser Selbstverständnis als Mensch ist. Deshalb an dieser Stelle ein paar Klarstellungen aus neurologischer und psychiatrischer Sicht.
FALL 17: Der 26-jährige Student Friedrich N. kommt Ende September in die psychiatrische Praxis, weil er sich selbst finden will. Er habe auch eine Depression, wolle auch gleich seine Kindheit aufarbeiten und überhaupt sei es toll, mal mit einem Psychologen zu reden. Die beiden vereinbaren wöchentliche Sitzungen und vertiefen sich, gemäß dem Auftrag, in die Kindheitsgeschichten des Patienten. Ende November fällt dann ein Nebensatz, der den Psychiater stutzig macht: Der Patient hätte bis Ende Oktober seine Seminararbeit abgeben müssen, und da er das nicht schaffte, habe er jetzt ein Jahr verloren. Erstaunt fragt der Psychiater nach, warum Herr N. das Thema nicht früher eingebracht habe. Der Patient wehrt ab: Das sei für die Therapie nicht so relevant, das wolle er nicht eigens thematisieren, denn wenn erst einmal seine Kindheit aufgearbeitet und seine Depression beseitigt sei, dann würden sich sämtliche Seminararbeiten praktisch von alleine schreiben. Er sei für das tiefgründige Reparieren und nicht für oberflächliches Kaschieren! Ein schnelles Hinhudeln seiner Arbeit hätte ihn ja doch nicht wirklich weitergebracht, meint der Student.
Dabei übersieht er, dass seine Depression durch die Einnahme eines Antidepressivums bereits seit längerem verschwunden ist. Der Psychiater wird neugierig. Herr N. hat tatsächlich auch in anderen Bereichen – gelinde gesagt – außergewöhnliche Selbsteinschätzungen. Es stellt sich heraus, dass nach sechs Jahren Studium bloß ein Jahr wirklich absolviert ist, dass Herr N. täglich bis zum Mittag schläft und damit wichtige Vorlesungen versäumt, dass seine Eltern das zu ahnen beginnen, bereits verzweifelt sind und mit der Beendigung der finanziellen Unterstützung drohen. Seine Verlobte Dorli weiß von alldem nichts und ist nach wie vor der Meinung, dass sie demnächst von einem Diplomingenieur zum Traualtar geführt wird.
Seine Situation ist, österreichisch gesprochen, hoffnungslos, aber nicht ernst. Und so schätzt Herr N. sie auch ein. Man einigt sich nach dieser Erkenntnis auf eine Modifizierung des therapeutischen Auftrags. Nun hat der Psychiater die Aufgabe, im »seelischen Sauhaufen« (Originalton Friedrich N.) Ordnung zu schaffen. Beim Wort »Selbstdisziplin« verfinstert sich die Mimik des Lebenskünstlers. Er sei ja bereit, aber es solle nicht weh tun oder Anstrengung kosten. »Das muss von selber gehen, wenn wir die Blockaden weganalysiert haben!« Als erstes Ziel nimmt er sich vor, statt um 13 Uhr bereits um 10 Uhr aufzustehen. Das Ziel stellt sich nach zwei Monaten als zu hoch gegriffen heraus. Seine Selbsterkenntnis: »Das funktioniert bei mir einfach nicht, wenn ich nicht dringend auf die Uni muss.« Man muss also kleinere Brötchen backen. Der Psychiater versucht es mit der Seminararbeit. Die wäre nach Einschätzung des Patienten in etwa zehn Arbeitsstunden zu erledigen gewesen. Der Patient nimmt sich eine Seite pro Woche vor –
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