Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
Leben: »Auf dem engen Geviert der Kegelplatte dieses wilden Steines im See verbrachte Gregorius, des Wiligis und der Sibylla Sohn und Gatte der Letzteren, mutterseelenallein und bar aller Gnade so viele Jahre, wie er gezählt hatte, als er tadelnswerterweise sein Eiland fern im Meer und das Kloster ›Not Gottes‹ verlassen hatte – volle siebzehn Jahre verbrachte er dort ohne eine andere Bequemlichkeit als das Himmelsdach über sich, ohne Schutz weder vor Reif noch vor Schnee, weder vor Regen noch Wind, noch vor Sonnenbrand, bekleidet nur – aber wie lange hielt das denn vor! – mit seinem härenen Hemd, bei nackten Armen und Beinen. « Als eine römische Abordnung ihn nach fast zwei Jahrzehnten aufsucht, empfängt er sie mit den Worten: »Hinweg von dem Ort, der mir angewiesen, damit ich durch äußerste Buße dennoch vielleicht zu Gott gelange!«
Das Ödipusthema wird hier neu aufgerollt: die schuldlose »Schuld«. Natürlich fühlt es sich nicht gut an, ein Inzestkind zu sein und irrtümlich die Mutter geehelicht zu haben. Die Beschämung, die Scham, die Schande ist dem Schuldgefühl ähnlich, aber eben doch nicht ident. Beide Helden, Ödipus und Gregorius, werden nach ihrer Geburt ausgesetzt und gerettet. Der eine wächst als Hirte unter Hirten, der andere als Fischerskind unter Fischerskindern auf. Gregorius wird mit sechs Jahren allerdings ins Kloster genommen. Ödipus erschlägt unwissentlich den eigenen Vater, womit sich der Orakelspruch erfüllt, befreit Theben von der Sphinx und heiratet die Königin. Gregorius’ Vater stirbt, wenn auch nicht durch die Hand seines Sohnes. Gregorius erschlägt aber einen anderen, befreit die Stadt der Herzogin Sibylla und heiratet sie daraufhin. Beide Paare zeugen Kinder. Ödipus entdeckt dann selbst die komplizierten Umstände, seine Frau und Mutter Iokaste erhängt sich, Ödipus sticht sich die Augen aus, wird aus dem Land vertrieben und stirbt als armer Bettler. Er zerbricht an seiner Schande. Als Gregorius hingegen seine Frau als seine Mutter erkennt, kommt es in der Verzweiflung nicht zur Selbstverletzung, sondern beide sind sofort zur harten Buße bereit, zu der es sie subjektiv drängt. Nach seiner Sühne wird das Inzestkind, das zugleich »Inzestsünder« ist, aber sogar zum Oberhaupt der Christenheit erwählt. Der Fall soll klarmachen, dass es tragische und als schuldhaft empfundene Lebensumstände gibt, für die man absolut nichts kann, an denen man also nicht »selber schuld« ist.
Zur neurowissenschaftlichen Diskussion um die menschliche Freiheit
Jeder Mensch weiß im Grunde, dass er nicht alle seine Handlungen vollständig in der Hand hat. Vieles, was wir tun, »passiert« uns einfach. So zieht sich die Frage durch die Geschichte der Menschheit, ob denn der Mensch überhaupt ein Mitspracherecht bei seinen eigenen Reaktionsmustern hat – und falls ja, wie viel. Wie frei beziehungsweise determiniert sind wir in unserem Handeln und Unterlassen? Was bewirken die Gene? Was macht die Erziehung?
Über die menschliche Freiheit gibt es heute in der Welt der Neurowissenschaft wieder einmal eine heftige Debatte, die manchmal den Anschein erweckt, als verlören die Teilnehmer dieser geschlossenen Gesellschaft immer mehr den Boden der Realität unter den Füßen. Als würden die Damen und Herren – mehr Herren übrigens – am grünen Tisch über die Existenz des Mondes streiten, während der Mann von der Straße ebenselbiges Diskussionsobjekt allabendlich bei einem Glas Wein genüsslich bewundert. Er würde angesichts dieser hochwissenschaftlichen Diskussion wahrscheinlich verständnislos den Kopf schütteln und vielleicht wohlmeinend annehmen, die Gelehrten sprächen von so komplizierten Sachverhalten, dass er diese eben gar nicht richtig erfassen könne.
1964 wurde von den deutschen Neurologen Hans Helmut Kornhuber und Lüder Deecke das sogenannte Bereitschaftspotenzial im Gehirn entdeckt. Dieses neuronale Potenzial ist ein kleiner Stromimpuls, den man im Hirn messen kann, bevor die willentliche Entscheidung des Menschen messbar wird, eine gewisse Bewegung durchzuführen. Im Falle von Kornhuber und Deecke waren das Fingerbewegungen. Mit dem Bereitschaftspotenzial trat die Diskussion um die Willensfreiheit in eine neue Dimension. Diese Entdeckung beweist zwar zunächst nur, wie komplex das motorische System aufgebaut ist. Sie wurde aber oft in dem Sinn überinterpretiert, dass unbewusste Neuronenentladungen die bewusste Willensentscheidung
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