Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
sie festgestellt, dass die Kollegen weit mehr konnten und wussten als sie. Einer hatte fünf Jahre als Sanitäter gearbeitet, eine andere als Pflegehelferin – sie wussten sich in einem Krankenhaus viel besser zu bewegen. »Wieso hat mir das niemand gesagt?« Frau Dr. T. habe den Oberarzt nach jedem Patienten gebeten, ihr die Krankengeschichte genau zu erklären. Der habe nach anfänglicher Hilfsbereitschaft zunehmend unwirsch reagiert. Am Abend und in der Nacht habe sie versucht, alle Fälle in ihren Büchern nachzulesen. Trotzdem sei sie nach der Probezeit beurlaubt und in ein anderes Spital versetzt worden. Sie führte es auf den launischen Oberarzt zurück. Am neuen Arbeitsplatz habe sich dasselbe wiederholt. Sie habe gegen den Krankenhauserhalter prozessiert – und verloren. In der Standesvertretung habe man ihr schließlich gesagt, dass sie leider nicht zur Ärztin geeignet sei und dass sie sich einen anderen Beruf suchen solle. Das war am Tag vor ihrem ersten Besuch beim Psychiater.
ANALYSE: Frau Dr. T. lebt dafür, Ärztin zu sein und als solche Anerkennung zu erfahren. Ihr tragischer Fall zeigt, dass Wollen noch nicht Können bedeutet. Und dass es manchmal sinnvoll sein kann, auf den Ratschlag anderer zu hören. Und dass ein ganzes Leben aus dem Gleichgewicht gerät, wenn man seine körperliche Determiniertheit (dazu gehören die Hirnfunktionen) falsch einschätzt, sich dadurch auf das falsche Ziel festlegt und diesem alles andere opfert. Der Fall zeigt auch, dass es sehr gefährlich ist, wenn der Mensch sein gesamtes Selbstverständnis aus seiner Berufszugehörigkeit schöpft. Frau Dr. T. ist einer Lebenslüge zum Opfer gefallen.
Für unser Temperament können wir nichts
»Temperament« nennt man die Neigung zu bestimmten, charakteristischen Reaktionsweisen, die durch neuronale Synapsenbildung und Netzwerke vorprogrammiert, also in gewisser Weise determiniert sind. Das Temperament sucht man sich nicht aus, das bekommt man in die Wiege gelegt. Das hat die Wissenschaftler von Anfang an fasziniert, weswegen die abenteuerlichsten Typologien entwickelt wurden. Der griechische Naturphilosoph Empedokles etwa ordnete bereits im fünften vorchristlichen Jahrhundert das Wesen der Menschen den Naturelementen Erde, Wasser, Luft und Feuer zu. Je nach Element waren für ihn auch die Reaktionsweisen typisch: Dem Feuer ordnete er Zielstrebigkeit, Ehrgeiz und Engagement zu. Wasser sei das sanfte Element, nachgiebig und weich. Das Luftelement sah er als quirlig, flexibel und veränderungsorientiert. Die Erde steht schließlich für das Festgefügte, Starre und Beständige. Schon diese erste Typologie hat durchaus etwas Lebendiges, Reales. Das mit den Elementen ist natürlich heute nicht mehr so brauchbar, aber erstmals wurde hier anhand von geduldiger Beobachtung festgestellt, dass Verhaltensmuster etwas mit der biologischen Konstitution zu tun haben.
Eine Generation später postulierte Hippokrates seine berühmten vier Körpersäfte: Blut (Sanguis), gelbe Galle (Chole), schwarze Galle (Melanos) und Schleim (Phlegma). Diese vier Säfte seien bei jedem Menschen etwas anders verteilt, weswegen sich die Menschen unterschiedlich verhalten würden. Aristoteles erklärte drei Generationen danach die Unterschiede in den Reaktionsmustern mit Bluttypen: Es gebe leichtes, kaltes, heißes und schweres Blut. Dieses Bild hat sich in der Umgangssprache – »heißblütig« – bis heute erhalten. Auch der scharfsichtige Menschenkenner Fjodor Dostojewski schrieb von schwerblütigen Persönlichkeiten.
Der griechische Arzt und Naturforscher Galen leitete schließlich im zweiten Jahrhundert nach Christus aus den vier Körpersäften des Hippokrates die klassischen vier Temperamente ab: Sanguiniker, Choleriker, Melancholiker und Phlegmatiker. Im Mittelalter war diese Lehre bestimmend, bis Paracelsus im 16. Jahrhundert die Viersäftelehre heftig kritisierte und sie durch die drei Grundsubstanzen Schwefel, Quecksilber und Salz ersetzte. Ziemlich unbrauchbar, übrigens. Seitdem verlor jedenfalls die Lehre von den Temperamenten an Bedeutung, bis sie 200 Jahre später von Immanuel Kant wiederentdeckt wurde. Er fasste zwei Gruppen zusammen: »Temperamente des Gefühls sind Sanguiniker und Melancholiker, Temperamente der Tätigkeit sind Choleriker und Phlegmatiker.«
Der deutsch-britische Psychologe Hans Jürgen Eysenck, einer der Begründer der Verhaltenstherapie und starker Kritiker Freuds, verfeinerte im 20. Jahrhundert Galens
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