Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
beschlossen, ein »Bösewicht« zu werden, und wahrscheinlich werden die meisten zustimmen, dass er das recht gut hingekriegt hat. Konrad Lorenz schrieb ein Buch über das »sogenannte Böse« und entlarvte anhand seiner Graugänse aggressives Verhalten als biologisch determiniert und erklärbar. Das ist beim Menschen anders, wie wir bei unserem Helden sehen: Richard nimmt in seinem Bauch ein großes Bedürfnis wahr – das ist der Thron. Und dafür geht er über Leichen. Der Wunsch nach dem Thron ist zwar noch nicht problematisch, wohl aber unpraktisch: Wegen seines älteren Bruders und seiner beiden Neffen wäre es sehr unwahrscheinlich gewesen, dass Richard auf »natürlichem Wege« sein Bedürfnis hätte befriedigen können. Sowohl der Sozialpsychologe Philip Zimbardo als auch die Psychoanalytikerin Maire-France Hirigoyen haben eine solche Konstellation »Versuchung« genannt. Die Bauchgefühle weisen in eine Richtung, von denen der Kopf weiß, dass deren Verwirklichung die eigenen moralischen Grenzen überschreitet. Hier stehen sich Bedürfnis und Gewissen direkt gegenüber: entweder – oder.
Wenn Richard von York jetzt nun einmal dieses Bedürfnis in seinem Bauch empfindet: Kann er es auf Dauer überhaupt unterdrücken und verdrängen? Eine ähnliche Frage stellt der Psychoanalytiker Albert Görres, der in jungen Jahren Assistent von Alexander Mitscherlich war und später die Urschrei-Methode in Deutschland einführte. Er brach mit seinem Buch über das Böse 1982 viele Tabus. Görres stellt gleich im Vorwort die provokante Frage in den Raum, ob es denn einen vernünftigen Sinn haben könne, eine Bewältigung des Bösen in uns selbst für erstrebenswert und für möglich zu halten. »Denn das ist gewiss ein psychologisches Naturgesetz: Wir können nur wirksam wollen, was wir für möglich halten und was wir für wirklich gut halten.« Nur das Erreichbare und Wünschenswerte sei auch erstrebbar. Der Psychoanalytiker meint weiter, dass viele bei der Bewältigung des Bösen resignieren, weil sie das Gute nicht für sich selbst gut halten können. Vor allem aber, weil sie es nicht für möglich halten. Damit sei das Wollen seiner beiden Hauptstützen beraubt. »Da niemand gerne seine Kräfte an unlösbare Aufgaben verschwendet, ist die Frage entscheidend, ob eine Bewältigung oder Eindämmung des Bösen eine lösbare Aufgabe ist oder ein überzogenes Ideal für Romantiker und Neurotiker.«
Albert Görres übersieht einen dritten Punkt: den willentlichen Selbstbetrug, der sich schon lange entschieden hat und das Gewissen nur pro forma befragt. Es gibt das moralische Desinteresse daran, was in der Situation gut wäre. Wenn die »Versuchung« heftig lockt und der Mensch sich diesen Lockungen nicht entziehen will, knickt der Wille eben irgendwann ein und entscheidet, dass die Vernunft die moralischen Dimensionen der Handlung nicht allzu genau beleuchten sollte. Das Gewissen wird also eingelullt, bestochen und mundtot gemacht. Der Mensch konstruiert in seiner Phantasie eine – für Außenstehende leicht durchschaubare – Pseudorechtfertigung, wie der Student Raskolnikow in »Schuld und Sühne«. Auch Richard York sieht sich als der Ärmste, entwickelt ein ausgesprochen hohes Maß an Selbstempathie und Selbstmitleid. Und er konzentriert sich autosuggestiv immer mehr darauf, dass der König nur auf dem Thron sitze, weil er, Richard, sich die Hände schmutzig gemacht habe. So verwischt und verblendet Richard seine eigene Urteilsfähigkeit.
Die Freiheit des Menschen hängt von der Autorität, dem Stellenwert und der Durchschlagskraft seines eigenen Gewissens ab. Richtigerweise zeigt Görres in seinem Buch, dass jemand, der nicht erkennen kann, was gut ist, es auch nicht zu verwirklichen vermag. Und wer nicht erkennt, was böse ist, kann es auch nicht vermeiden. Durch die oben beschriebene Autosuggestion fällt für Richard letztlich jede moralische Schranke weg, bis die Taten innerlich gerechtfertigt erscheinen. In dieser Lebenslüge ist nun das Unrecht möglich, das die »Selbstverwirklichung« ermöglicht. Wie asymmetrisch und falsch dieses kognitive Konstrukt ist, entlarvt Görres in einer simplen und für jeden sofort nachvollziehbaren Feststellung: »Jeder, auch der sogenannte gemütlose Psychopath, auch der verkommenste Verbrecher, auch der verschrobenste Ideologe, hat spätestens in dem Augenblick ein recht genaues Wissen vom Bösen, in dem ihm selbst Unrecht geschieht.« Tatsächlich, Richard wäre
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