Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
Patienten auf ihre subjektive Ordnung anspricht: »Was ist Ihnen das Wichtigste?«, und hört: »Erstens Erhalt der Ehe, zweitens Erhalt der Arbeit, drittens psychisches Wohlbefinden«, kann man darauf hinweisen, dass offenbar die Ehe wichtiger sei als das eigene Wohlbefinden. Also müsse Herr X. eben das Wohlbefinden, das ihm die Freundin bereitet, aufgeben, müsse Herr Y. die Zeit, die er mit Golfspielen verbringt, im Interesse der Familie einschränken. In der Praxis ist das oft deswegen schwer umzusetzen, weil Herr Y. eben schwach ist, weil Herrn X. die kurzfristige Befriedigung momentan wichtiger scheint als das langfristige Glück. Darin ist eine häufige Quelle von Unglück zu sehen: Man gibt der kurzfristigen Befriedigung Vorrang vor dem langfristigen Glück.
Eine gute Psychotherapie bringt Ordnung in den menschlichen Haushalt von Wille, Verstand und Emotion. Die Kardinaltugend der Mäßigung bedeutet nach dem Philosophen Josef Pieper, »in sich selbst Ordnung zu verwirklichen«.
FALL 25: Die Eltern des 19-jährigen Matthias F. werden kurz vor dessen Matura (Abitur) beim Psychiater vorstellig, »weil Matthias einmal mit einem Psychiater sprechen will«. Das Ehepaar F. will nur vorher abklären, ob er – der Psychiater – wohl der Richtige sei. Denn nicht jeder könne richtig mit ihrem Sohn sprechen, der sei nämlich etwas ganz Besonderes. Die Mutter spricht – in kaum überhörbarer Bewunderung – von ihrem fabelhaften Stammhalter, der Vater lauscht unterwürfig. Matthias sei hochbegabt. Aber ebendas würden ihm, dem Wunderkind, seine Mitschüler neiden. Außerdem würden die Mitschüler ihm sein gutes Aussehen neiden, er müsse überhaupt viel Neid aushalten und werde richtiggehend gemobbt. Eine Bekannte habe ihr, der Mutter, einmal gesagt: »Was der Bub aushalten muss, der wird einmal ganz ein Großer.«
Auch die Lehrer würden ihn beneiden, weswegen sie ihm nicht die Noten geben, die er verdiene – die besten –, sondern ihn strenger benoten würden als die Mitschüler. Das könnte sie beweisen. (Der Psychiater benötigt den Beweis natürlich nicht.) Jedenfalls habe er, das Wunderkind, keine Freunde, obwohl er so viele bewundernswerte Eigenschaften habe. Er finde auch keine Freundin, darunter würde er besonders leiden, dabei habe er jetzt einen Sportwagen bekommen, weil die Mädchen auf so etwas Wert legten. Insgesamt sei er aus völlig unverständlichen Gründen isoliert. Ob der Therapeut da helfen könnte?
Der Psychiater fragt nach der Familienstruktur und erfährt, dass es noch zwei ältere Schwestern gibt, 21 und 24 Jahre alt, die keine sozialen Probleme haben – aber auch keinen Sportwagen. Die ältere hat einen Freund, die Jüngere noch nicht. Das ist aber kein Familienproblem. Der Psychiater fragt nach möglichen Familienkonflikten. Ja, die passieren häufig, vor allem wenn Frau F. den Matthias verteidigen müsse, weil der Sohn zu Recht seinen Vater kritisiere und dieser daraufhin aggressiv werde. Der Psychiater blickt zum Vater und sieht ein schuldbewusstes Nicken. Welche Themen das seien? Etwa die Tischmanieren des Vaters, denn Matthias lege großen Wert auf gute Tischmanieren. Er möchte später ja Anwalt werden oder Politiker.
Der Psychiater fragt nach der Ehe der Eltern. Die sei nicht die beste. Der Psychiater blickt auf den Vater und sieht ein schuldbewusstes Nicken. Der Mann wolle immer nur Sex. Auch Matthias finde das nicht in Ordnung, dass sein Vater immer nur Sex wolle. Diesmal unterlässt der Psychiater den Blick zum Vater und fragt stattdessen nach der Familienhierarchie. Erstaunte Mienen, die Mutter weiß mit der Frage nichts anzufangen. Wer denn der Wichtigste in der Familie sei, versucht der Psychiater zu präzisieren. Ja, Matthias sei natürlich der Wichtigste, sind sich die beiden einig. Dann folge in der Wichtigkeit die Mutter, so würden wohl die Kinder sagen. Oder? Die Frau dreht sich fragend zum Mann. Der nickt wortlos. Der Vater habe keine Autorität, aber da sei er selber schuld. »Wegen den Tischmanieren und dem Sex. Solche Sachen halt.« Der Psychiater versteht. Wenn ein Thema so häufig angeboten wird, muss man es schon aus Höflichkeit aufgreifen: Wie oft es denn zur sexuellen Begegnung komme? Da platzt der Vater: »Ja wie denn, wenn der Bub bei uns im Doppelbett schläft? Zwischen uns – seit 19 Jahren!«
Als der junge Mann mit der beginnenden narzisstischen Persönlichkeitsstörung schließlich in die Therapie kommt, ist er selbstverständlich zehn
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