Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
Minuten zu spät. Er habe keinen Parkplatz gefunden, hätte schon erwartet, dass da Parkplätze reserviert seien. Richtig irritiert ist er, dass die erste Stunde pünktlich endet, obwohl sie doch später begonnen hat (klassisches Narzissmus-Zeichen). Die Therapie verläuft wider Erwarten gut, Matthias F. ist intelligent und versteht schnell, dass seine hervorgehobene Position in der Familie weder der Familie noch der Ehe der Eltern, noch ihm selbst guttut. Er habe, so gibt er schließlich zu, selbst zunehmend unter den mütterlichen Huldigungen und den Demütigungen des Vaters gelitten. Er verlässt schließlich das elterliche Bett – das kostet den Psychiater übrigens einen Protestanruf der Mutter – und stellt sich gegen den Widerstand seiner Mutter auf den fünften Platz der Familie, wo er sich viel wohler und freier fühlt als auf dem Thron. Auch der Vater ist für den Therapieerfolg recht dankbar.
ANALYSE: Matthias wird von den Eltern, besonders von der Mutter, in der Familienhierarchie überhöht behandelt. Zudem wird der Vater von ihr vor den Kindern zunehmend abgewertet, so dass schon die Kinder über die elterlichen Intimitäten informiert sind und urteilen. Matthias durchbricht – nachdem er die Dynamik in der Therapie durchschaut – das ihm von der Mutter dargebotene Muster, erhöht so seinen Handlungsspielraum und stellt seine Freiheit und seine Beziehungsfähigkeit wieder her.
In der Zusammenschau der Forschungsergebnisse, wie sie uns heute vorliegen, könnte man schätzen, dass etwa 40 Prozent unseres Verhaltens – die unreflektierten Reaktionsmuster des Temperaments – durch die Gene und weitere 40 Prozent durch Umwelteinflüsse wie Erziehung und Peers weitgehend festgelegt werden. Aber die verbleibenden 20 Prozent eröffnen die Möglichkeit zur Selbstprägung. Mit diesem Anteil kann man Tugenden aufbauen, Freiheit gewinnen, in sich selbst und in seinen Beziehungen Ordnung verwirklichen. Die Deterministen Singer und Roth sehen die 80 Prozent, übersehen aber geflissentlich die letzten 20 Prozent, die den Menschen erst zum Menschen machen. Durch Selbsterkenntnis und den freien Willen sind Verhaltensänderungen möglich. Deshalb ist es nicht nur eine Frage der Synapsen und Gehirnwindungen, wie wir mit unseren Schwächen und Fehlern umgehen – und mit unserer ureigenen Schuld.
Wir sind nicht unsere Defekte
Im vorangegangenen Kapitel wurde die Frage gestellt, ob das »Ich« im Grunde nur vom Gehirn produziert werde. Ist das Ich nicht sogar das Gehirn? Gerhard Roth jedenfalls meint in diesem Sinn: »Unser Ich, das wir als das unmittelbarste und konkreteste, nämlich als uns selbst, empfinden, ist … eine Fiktion, ein Traum des Gehirns, von dem wir, die Fiktion, der Traum nichts wissen können.« Kann das stimmen? Eine pfiffige Antwort hat Thomas Fuchs, indem er antwortet: »Nun, was mich selbst betrifft, so habe ich mein Gehirn zwar noch nicht persönlich kennengelernt, aber jedenfalls ist es nicht 1,82 Meter groß, es ist kein Deutscher und kein Psychiater; es ist auch nicht verheiratet und hat keine Kinder. Das stellt meine Bereitschaft zur Identifikation mit diesem Organ schon auf eine harte Probe. Aber es wird noch bedenklicher: Mein Gehirn sieht, hört und weiß auch nichts, es kann nicht lesen, nicht schreiben, tanzen oder Klavier spielen. Eigentlich kann es überhaupt nur wenig – es moduliert komplexe physiologische Prozesse. Bei Licht besehen, bin ich doch ziemlich froh, nicht mein Gehirn zu sein, sondern es nur zu haben. «
Tatsächlich, wir sind nicht unser Hirn. Und gleichfalls nicht unser Temperament, unsere Erziehung, unsere Laster. Und schon gar nicht unsere Bauchgefühle oder unsere Triebe. Das sind alles Eigenschaften, die wir haben: Wir haben ein Temperament, eine Erziehung (mehr oder weniger), Triebe, Bauchgefühle und Neigungen zum Laster (bei Heiko Ernst »Todsünden«).
FALL 26: Frau Herta D., Gattin eines 50-jährigen Unternehmers, kommt wegen des Alkoholismus ihres Mannes in die psychiatrische Praxis. Er sei während der Woche im Wesentlichen unauffällig, abgesehen davon, dass er viel arbeite und nie daheim sei, aber am Wochenende sei er dann eigentlich pausenlos betrunken. Das beginne bereits am Freitagabend, wenn er nach der Arbeit noch im Wirtshaus vorbeischaue, und gehe am Samstagvormittag mit einer Flasche Sekt zum Frühstück weiter. Die drei kleinen Töchter zwischen vier und zehn Jahren würden schon merken, dass mit dem Papa etwas nicht stimme,
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