Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
Grundsätzlich aber sei es besser, Unrecht zu erleiden als Unrecht zu tun.
Dieses Urteil stimmt nicht nur in ethischer Hinsicht: Kohlhaas wäre besser ausgestiegen, hätte er zur richtigen Zeit die zwei ausgehungerten Pferde zurückgenommen oder vergessen. Sokrates überzeugt Polos davon, dass das Unrechttun in sich hässlich ist und insofern ungut. Derjenige, der Unrecht tut, handle aus Nichterkennen des Guten und Schönen und insofern nie schön und gut. Durch diese Teilhabe am Schönen und Guten ergibt sich der Vorrang des Unrechtleidens vor dem Unrechttun. Die Handlungsweise des Michael Kohlhaas kann man tatsächlich nicht als schön und gut beurteilen. Hätte er rechtzeitig eingelenkt, so hätte man ihn als klug bezeichnen können, vielleicht sogar als weise. Aber so hat er alles verspielt, obwohl er zunächst zweifellos im Recht war. Verbitterung ist – wie wir an diesem Fall sehen – der verunglückte Umgang mit erlittenem Unrecht.
Die Verbitterung
Aristoteles ist vor über 2000 Jahren im folgenden Zitat aus der »Nikomachischen Ethik« eine gute Beschreibung des Gemütszustands unseres Gerechtigkeitsfanatikers Michael Kohlhaas gelungen, obwohl er ihn noch gar nicht kennen konnte: »Verbittert ist der schwer zu Versöhnende, der lange den Zorn festhält; er verschließt die Erregung in seinem Innern und hört damit erst auf, wenn er Vergeltung geübt hat. Denn geübte Vergeltung beschwichtigt die Erregung, indem sie das Gefühl des Schmerzes durch ein Gefühl der Befriedigung ersetzt. Geschieht das nicht, so wirkt der Druck weiter. Denn da die Erregung nicht offen heraustritt, so kann einem solchen auch keiner gut zureden; innerlich aber die Erregung zu verarbeiten, dazu braucht es Zeit. Diese Art von Menschen ist sich selbst und den vertrautesten Freunden die schwerste Last.«
Der deutsche Psychiater Michael Linden hat aufgrund seiner persönlichen Therapieerfahrungen mit Patienten in Berlin in den Jahren nach der Wende die »posttraumatische Verbitterungsstörung« beschrieben. Diese Störung trifft auch auf Michael Kohlhaas zu. Zu Linden kamen oft Patienten, die durch die Wende berufliche Nachteile in Kauf nehmen mussten beziehungsweise für die bisherige DDR-Privilegien weggefallen waren.
FALL 27: Herr Elmar F., 50 Jahre alt, kommt in die Praxis. Er leide an einem chronischen Erschöpfungssyndrom, sei unzufrieden mit seinem Leben und könne sich immer weniger freuen. Er habe definitiv zu viel auf dem Buckel, jeder wolle noch mehr von ihm und niemand nehme ihm Arbeit ab: Er müsse seine Firma leiten und sich gleichzeitig um die Wissenschaft kümmern. Und dann noch die Familie mit drei halbwüchsigen Kindern, die seit Jahren in der Pubertät seien und unverschämte Forderungen stellten. Das sei halt alles zu viel. Seine Frau, mit der er die Firma gemeinsam leite, verlange mehr Präsenz, sowohl in der Firma als auch in der Familie. Aber die verstehe halt nicht viel von der Wissenschaft. Der Psychiater fragt nach: Was das mit der Wissenschaft auf sich habe? Ja, er sei ein Privatgelehrter und schreibe an einem sehr wichtigen Buch über die göttlichen Tugenden – schon seit fünf Jahren, und das werde die Theologie revolutionieren. Der Psychiater reagiert verwirrt: Ob er denn Theologe sei? Nein, er sei Volkswirt und Firmengründer, aber in der Theologie habe er ausgesprochen viel Talent. Eigentlich sei er darin sogar genial, aber das sage er sehr ungerne, das würde so überheblich klingen. Aber es stimme: Ein bekannter Theologe habe ihm schon einmal in einem Antwortbrief seine Hochachtung ausgesprochen. Jede freie Minute verbringe er jedenfalls hinter dem Schreibtisch, um das Buchprojekt voranzubringen. Wovon er lebe? Nun, von der Firma, aber das könne ja genauso gut seine Frau machen. Das Buch hingegen könne sie nicht schreiben. Vor zehn Jahren habe er die Chance schlechthin gehabt: Damals habe ihn der berühmte Theologe G. als seinen persönlichen Assistenten wollen. Aber seine Frau habe da nicht mitgemacht. Er mache ihr da keinen Vorwurf, sie könne die Tragweite seines Werkes ja gar nicht überblicken. Wegen der Firma und der Familie habe er jedenfalls das schwere Opfer gebracht und sei nicht von Wien nach München gezogen. Wenn er damals nicht so blöd gewesen wäre – wobei die Familie und die Firma natürlich schon wichtig seien –, dann könne man sich ja ausrechnen, wo er heute stünde. Das könne er ohnehin nie mehr aufholen, aber zumindest ein wenig in diese Richtung müsse er sich
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