Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
ist entrüstet. Er fühlt sich noch mehr als Opfer und will Gerechtigkeit – koste es, was es wolle! Deshalb ersucht Kohlhaas seinen Landesherrn, den Kurfürsten von Brandenburg, ihm Recht zu verschaffen. Wieder macht sich der intrigante Junker verwandtschaftliche Beziehungen zu den Beratern des Kurfürsten zunutze, und das Anliegen des betrogenen Pferdehändlers wird auch in Berlin zurückgewiesen.
Michael Kohlhaas gibt nicht auf. Er ist gekränkt. Langsam wird die Grenze der Verhältnismäßigkeit überschritten, nur er merkt das nicht. Seine Gedanken kreisen nur mehr um das erlittene Unrecht und darum, wie er doch noch Gerechtigkeit erfahren könnte. Seine beruflichen Verpflichtungen sind längst beiseitegeschoben. Die Sache aufgeben und einfach weiterleben: niemals! Das ist für ihn keine Option. Er fühlt sich als Opfer. Der Täter soll sich nicht zurücklehnen können und ihn auslachen! Das ist verständlich, aber ein Außenstehender kommt vielleicht jetzt zu dem Schluss, Kohlhaas sollte sich weniger um die Gerechtigkeit als um ein gutes Weiterleben mit seiner Familie kümmern.
Stattdessen setzt der eine Bittschrift auf, mit der er jetzt seine Frau zum Kurfürsten schickt. Er involviert so sein privates Umfeld, der Konflikt eskaliert. Die Schlosswache greift Frau Kohlhaas unglücklicherweise vor der Übergabe an. Sie wird schwer verletzt und stirbt wenig später sogar an den Folgen. Jetzt verliert Kohlhaas endgültig die Kontrolle über sich. Wollte er vorher Gerechtigkeit, so will er jetzt Rache. Er verkauft all seinen Besitz und zieht mit sieben Knechten schwer bewaffnet gegen den verschlagenen Junker zu Felde. Tronkas Schloss wird niedergebrannt, die Bewohner getötet. Dem Junker selbst gelingt gerade noch die Flucht. Das ist bereits ein klarer Fall von Notwehrüberschreitung.
Doch Kohlhaas will mehr. Sein erster Erfolg scheint ihm recht zu geben. Nun soll niemand mehr über ihn lachen! Er wird sich für das Unrecht rächen. Er vergrößert sein Gefolge und jagt den Junker. Er verlangt in Wittenberg, wo Wenzel von Tronka Zuflucht gefunden hat, dessen Herausgabe. Als man sich dort seinem Ansinnen verweigert, steckt Kohlhaas kurzerhand die Stadt in Brand. Er macht sich damit immer mehr zum Staatsfeind, aber noch ist er für manche ein Held. Später steckt er Leipzig in Brand, und nur ein plötzlicher Regen verhindert Schlimmstes. Martin Luther persönlich schaltet sich ein, doch Michael Kohlhaas erweist sich als beratungsresistent. Er ist ein Opfer! Er ist ungerecht behandelt worden! Warum soll er jetzt einlenken, wo er doch auf dem Vormarsch ist? Martin Luther verweigert Kohlhaas daraufhin die Absolution in der Beichte: »wegen fehlender Reue«. Aber auch das kann Kohlhaas nicht mehr beeindrucken.
Schließlich werden Kohlhaas freies Geleit in die Stadt Dresden und ein gerechter Prozess zugesagt. Endlich Gerechtigkeit! Kohlhaas löst seine Truppen auf und begibt sich nach Dresden, wo es schließlich zu einer Verhandlung gegen den Junker kommen soll. Doch während Kohlhaas in Dresden weilt, setzt ein Teil seiner früheren Truppe das Brandschatzen und Morden in seinem Namen fort. Die Stimmung im Volk schlägt zu seinen Ungunsten um. Auch die Vertrauten des Kurfürsten beginnen wieder gegen Kohlhaas zu intrigieren. Aus der ihm zugesagten Amnestie wird Gefangenschaft in seinem eigenen Haus. Kohlhaas ist in seiner Verbitterung schon so gefährlich geworden, dass er als unberechenbar gilt und man ihm Gerechtigkeit nicht mehr gewähren will. In der Hoffnung, der Gefangenschaft zu entkommen, lässt er sich schließlich von der Obrigkeit in eine Falle locken. Er geht auf das zum Schein vorgetragene Angebot eines brandschatzenden Knechts, ihm zur Flucht zu verhelfen, ein. Dafür wird Kohlhaas zum Tode verurteilt und hingerichtet. Sein Kampf gegen das erlittene Unrecht hat acht Jahre gedauert. Er hat alles verloren. Und dabei schlussendlich noch viel größeres Unrecht begangen.
Wenden wir uns – unter dem Eindruck des Schicksals des »Gerechtigkeitsfanatikers« Michael Kohlhaas – nochmals der These von Sokrates zu. Polos, der Gesprächspartner von Sokrates, äußert in dem von Platon aufgezeichneten Dialog, dass er einen solchen Menschen für beneidenswert halte, der töte oder beraube, wen er wolle. Also in obigem Fall zuerst den Täter Wenzel von Tronka und dann auch das »Opfer« Michael Kohlhaas. Sokrates jedoch entgegnet, dass dies, selbst wenn es im Recht geschehe, nicht beneidenswert sei.
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