Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
Verletzlichkeit
Verletzlich ist der Mensch überall dort, wo er sich auf seine persönlichen Einschätzungen der Wirklichkeit existenziell stützt. Das nennt man in der Psychotherapie »Grundannahmen« (engl. »basic beliefs«). Fünfzehn Beispiele für praktische und weniger praktische Grundannahmen aus dem alltäglichen Leben: »Diese Firma kommt ohne mich nie zurecht, ich bin hier unersetzlich«; »Mein Chef mag mich sehr«; »Ich bin der beste Koch von hier bis Nebraska«; »Die Firma ist meine Familie, ich brauch keine Kinder«; »Was hab ich für einen traumhaften Body, alle Mädels stehen auf mich«; »Ich bin sehr beliebt und jeder mag mich«; »Der Beruf ist das Wichtigste im Leben«; »Materielle Sicherheit ist das Wichtigste im Leben«; »Verlässlichkeit und Ehrlichkeit sind das Wichtigste im Leben«; »Die Leute achten mich, weil ich reich bin«; »Ich bin toll, weil ich ein tolles Auto habe«; »Ich bin überdurchschnittlich intelligent und ausgesprochen gebildet – die anderen wollen gerne von mir lernen«; »Die Familie ist das Wichtigste im Leben«; »Mein Mann wird mir immer dankbar sein und mich nie betrügen«; »Gott ist die Nummer eins in meinem Leben«.
Viele der oben angeführten Grundannahmen sind einseitig und damit labil und gefährdet. Aber nicht alle. Je weiter eine Grundannahme von der Realität entfernt ist, desto leichter wird sie irgendwann verletzt (siehe Fall 30). Eine offensichtliche Dissonanz zwischen Grundannahme und Realität kennen wir als Selbstbetrug. Grundannahmen sind psychologische Einstellungen und Wertorientierungen, die dazu dienen, sich über eine lange Zeit hin kohärent verhalten zu können. Aufgrund der persönlichen, meist unausgesprochenen und unbewussten Grundannahmen kann man verstehen, als was jemand sich selbst versteht und wo er verletzlich ist.
Der junge Mann etwa, der sich wegen seines Autos toll fühlt, ist bei einem Totalschaden existenziell gefährdet. Schon ein Kratzer in seinem Boliden kann dann zur schweren Kränkung aufgebläht werden. Der Geistesriese, der sich ob seiner überragenden Intelligenz für nobelpreisverdächtig hält, mag den Nachweis eines Irrtums als schwere Beleidigung und Kränkung empfinden. Wer auf seinen Traumkörper unendlich stolz ist, den verletzen wir überproportional, wenn wir ihn auf das sich bereits abzeichnende Kugelbäuchlein hinweisen. Für den Unabkömmlichen und Unersetzlichen ist eine Kündigung besonders schwer zu ertragen. Wem der Beruf sehr wichtig ist, der kann tief getroffen sein, wenn die Beförderung auf unfaire Art hintertrieben wird. Sigmund Freuds »narzisstische Kränkung« beschreibt dasselbe Phänomen. Je mehr sich das idealisierte Selbst (Grundannahmen) von der Realität entfernt, desto kränkbarer ist der Betreffende. Je mehr sich jemand also ein geschöntes Bild von sich und seiner Welt zurechtlegt, desto schneller und desto tiefer fällt er in die Krise, wenn er schließlich mit der Realität konfrontiert wird.
Kränkungen und Ungerechtigkeit werden psychologisch als Aggression erlebt. Wenn darauf nicht mit wirksamer Verteidigung reagiert werden kann, setzen Hilflosigkeit, Resignation und Verbitterung ein. Verbitterung kann auch manchmal den Charakter einer Bestrafung des Aggressors durch Selbstzerstörung im Sinne einer Trotzreaktion haben. Verbitterung wird zur Resignation, weil es keine Hoffnung gibt, dass die eigene Handlung eine Änderung der Situation bewirken kann. Weil also die Hoffnung auf Handlungsspielraum verloren gegangen ist.
FALL 30: Die 55-jährige Renate W. wird von einer Freundin wegen einer »Depression« in die psychiatrische Praxis begleitet, nachdem sie 12 Monate zuvor unerwartet als Küchenleiterin eines Seniorenheims gekündigt worden ist. Von Seiten der Vorgesetzten wurden »erhebliche Arbeitsmängel« behauptet, die in einem ersten Schritt die Entpflichtung von der Funktion und letztlich die Kündigung zur Folge hatten. Nach der Kündigung kam es zu Stimmungseinbrüchen mit heftigem Weinen, Verbitterung, Ärger, Wut, Hoffnungslosigkeit, Resignation sowie sozialem Rückzug, begleitet von körperlichen Beschwerden wie Schlaflosigkeit, sexueller Unlust, Gewichtsabnahme, Erschöpfung und diffusen Schmerzen.
Außerdem zeigt Renate W. seit der Kündigung ein angsterfülltes Vermeidungsverhalten, was die räumliche Nähe zu ihrer alten Arbeitsstelle, den Kontakt zu ehemaligen Kollegen sowie die direkten Erinnerungen an das Kündigungsereignis betrifft. Frau W. lehnte lange
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