Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
zu. Die beiden Kinder, 13 und 14 Jahre alt, pubertieren durchschnittlich: Sie hatten kürzlich der Mutter an den Kopf geworfen, dass sie die ewige Leier von der fehlenden Dankbarkeit satthätten, weil sie schließlich nicht darum gebeten hatten, gezeugt zu werden. Pubertät eben. Das empört die Mutter, und sie vermutet ihren Mann als Souffleur. Er verbringe ja viel mehr Zeit mit den Kindern.
Der Psychiater entlässt die beiden aus der ersten Stunde mit einer Aufgabe: Sie mögen bis zum nächsten Mal in Ich-Form die Sicht des anderen aufschreiben. Die Frau verschränkt die Hände und meint kategorisch: »Sicher nicht! Ich habe mich ein Leben lang um andere gekümmert. Jetzt kümmere ich mich einmal NUR um mich!« Der Psychiater merkt, dass das eine längere Therapie wird.
ANALYSE: Sigrid Z. ist auf einem verbitterten Selbstverwirklichungstrip. Sie sieht sich als Opfer, und mit dieser Rolle rechtfertigt sie ihren Ego-Trip. Ihre Rationalisierung lautet: Jahrelang habe sie sich den Bedürfnissen anderer (ihrer Mutter, ihrer Kinder, ihres Mannes) unterworfen. Jetzt dürfe sie wohl erstmals ihre eigenen Bedürfnisse erspüren und gegen Widerstand durchsetzen. Das ist so lange kein Problem, solange man allein auf der Welt ist. Weil sie das aber nicht ist, kracht es. Frau Z. übersieht, dass sie sich selbst zu so einem Leben in ehelicher Bindung mit Kindern entschieden hat. Die Pubertierenden bringen es recht gut auf den Punkt, wenn sie auf die freie mütterliche Entscheidung hinweisen, die eigentlich keinen Grund für Verbitterung darstellen kann.
Zu den Symptomen gehören wiederholte, sich aufdrängende Erinnerungen und eine bleibende negative Veränderung der psychischen Gesundheit. Die Bewältigung des Alltags und der täglichen Pflichten und Aufgaben ist durch die Verbitterung in der Regel behindert. Michael Kohlhaas zum Beispiel denkt nur mehr an seine Pferde, die ihm genommen wurden, an das erlittene Unrecht. Vielleicht wäre er ein erfolgreicher Kaufmann geblieben, hätte er achselzuckend den Verlust in Kauf genommen: Man kann schließlich nicht immer gewinnen! Beim Betroffenen jedoch steht dieses andauernde Gefühl von Verbitterung im Vordergrund, verbunden mit Gefühlen von Hilflosigkeit, Vorwürfen gegen sich und andere, aggressiven Phantasien gegen sich selbst und andere bis hin zu Gedanken an Selbstmord und auch erweiterten Suizid (also Selbstmord und Mord). Kohlhaas hat sich zur Aktion, zur Rache entschieden. Viele Amokläufe gescheiterter Schüler in ihren Schulen sind so motiviert.
Im Gegensatz zu Kohlhaas kommt es bei vielen Patienten zu einer Blockade des Antriebs und einer inneren Unruhe. Betroffene zeigen oft psychosomatische Beschwerden, Schlafstörungen und einen Rückzug von allen sozialen Beziehungen. Plätze und Personen, die mit dem Trauma assoziiert sind, werden schamhaft vermieden, was vordergründig wie eine Phobie erscheinen kann. Die Grundstimmung ist missmutig, verärgert und vorwurfsvoll. Die Verbitterung kann auf den ersten Blick wie eine Depression wirken. Allerdings sind im Gegensatz zur Depression die Patienten schnell aufheiterbar und ablenkbar, wenn das Thema gewechselt wird. Ähnlich wie Angst kann eine verstärkte Verbitterung zu einem krankheitswertigen Zustand führen, der die Betroffen selbst schwer beeinträchtigt und der dann behandelt werden muss.
Verbitterung ist ein Gefühl, das jedem Menschen bekannt ist. In Umfragen gibt etwa die Hälfte der Menschen an, dass sie in den zurückliegenden Jahren Erlebnisse hatten, deren Erinnerung ein Gefühl der Verbitterung hochkommen lässt. Die meisten – die gesunden – Menschen kennen das zwar, kommen damit aber klar. Man hat zwar einen Zorn, eine wutmachende Erinnerung, aber fährt deswegen noch nicht aus der Haut, sondern kann das negative Erlebnis in seine Biographie und in seinen Alltag integrieren (siehe Fall 29). Bestimmte Berufsgruppen haben permanent verbitternde Erlebnisse, müssen aber damit zu leben lernen: Politiker etwa müssen sich, vor allem im Wahlkampf, gegenseitig rituell Schmerzen zufügen, einander beleidigen und Unsägliches unterstellen. Ein Politiker, der beim ersten kritischen Kommentar eines Journalisten die Fassung verliert oder bei der kleinsten Attacke eines politischen Konkurrenten in Tränen ausbricht, sollte um seiner psychischen Gesundheit willen rasch den Beruf wechseln.
Die gesunde Reaktion auf Ungerechtigkeit
Hier eine Klarstellung: Nicht jeder harmlose Zornausbruch oder Wutanfall ist schon
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