Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
unserer Geschichte. … Wir hatten das moralische Recht, wir hatten die Pflicht gegenüber unserem Volk, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen. « Ein Kernsatz des folgenreichen Selbstbetrugs ist, 1000 Ermordungen »durchzuhalten« und dabei »anständig« geblieben zu sein. Es wird mit dem Finger auf die gezeigt, die reden, aber nicht handeln. Das dient der eigenen Selbstüberhöhung. Zudem wird das Opfer zum Täter umgedeutet: Das jüdische Volk habe das deutsche umbringen wollen, behauptet Himmler. Damit wird der Genozid zur mutigen und notwendigen Selbstverteidigung umgelogen.
Bei dieser Art von Selbstbetrug wird auch die Moral umgeschrieben. Man kann es nicht nur so machen, man muss es sogar so machen ( »die Pflicht«, wie Himmler meinte). Je mehr schlechtes Gewissen dahinter steht, desto aggressiver, militanter und totalitärer wird die neue Scheinmoral eingefordert. Denn im Herzen des Menschen findet sich ein Gesetz, das der Mensch sich nicht selber gibt: das Gewissen. Der Selbstbetrug muss diese leise Stimme des Gewissens übertönen, überschreien, aggressiv zum Schweigen bringen. Während der Bauch reflexartig zum bequemen Selbstbetrug neigt, entscheidet sich das Herz letztlich aus freien Stücken bewusst dazu, indem es mehr und mehr wegschaut. Der Kopf macht dann mit und bietet den intellektuellen Überbau.
Das Judentum hat dieses innere Gesetz jedes Menschen ausformuliert und in Stein gemeißelt. Die zehn Gebote der jüdischen Thora finden sich deswegen mit bestimmten Nuancierungen letztlich in jeder Kultur, in jeder Religion, in jedem menschlichen Herzen. Es ist eine permanente Versuchung des Menschen, dieses innere Gesetz durch den jeweiligen Zeitgeist, etwa durch einen Kodex des jeweils vorgeschriebenen »politisch korrekten« Denkens, Fühlens, Sprechens und des damit verbundenen gewünschten Benehmens, umzuschreiben. Diese Tendenz ist wie der Turmbau zu Babel zum Scheitern verurteilt, weil man auf lange Sicht nicht verdrängen kann, was man im tiefen Inneren wahrnimmt. Die totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts, die nicht nur die Gestaltung der Politik, sondern die Reglementierung des alltäglichen Lebens und sogar des Denkens erzwingen wollten, versuchten hingegen, den Menschen selbst entgegen seiner Innerlichkeit zu ändern, einen »neuen Menschen« zu schaffen.
Auf Dauer lässt sich das Gewissen durch individuellen oder kollektiven Selbstbetrug nicht abtöten, die Wahrheit lässt sich nicht dauerhaft ungestraft vergewaltigen, die Wirklichkeit lässt sich nicht ohne Schaden umdeuten. Irgendwann kommt ein Kind, wie im Märchen von Hans Christian Andersen, das unschuldig sagt, was vorher schon alle gesehen haben, aber nicht zu sagen wagten: Der Kaiser hat ja keine Kleider an! Irgendwann ist der Selbstbetrüger überführt, entlarvt – steht vor den Trümmern seines Selbstbetrugs.
Im Oscar-prämierten Spielfilm »Das Leben der Anderen« von Florian Henckel von Donnersmarck muss der Stasi-Hauptmann Gerd Wiesler Mitte der 80er Jahre gegen den Theaterschriftsteller Georg Dreyman belastendes Material sammeln, indem er ihn rund um die Uhr abhört. Wiesler ist anfangs ein herzloser Kopfmensch, überzeugter Kommunist und beinharter Scherge des Regimes, der, ohne mit der Wimper zu zucken, die »Feinde des Sozialismus« ans Messer liefert. Er findet als Stasi-Überwacher keine Belastungsmomente gegen den Schriftsteller, beginnt aber durch die intensive Beschäftigung mit dem Leben der anderen eine innere Beziehung mit Dreymann und dessen Lebensgefährtin, der Schauspielerin Christa-Maria Sieland, aufzubauen. Erschrocken entdeckt er, dass der unappetitliche Kulturminister Bruno Hempf den harmlosen Schriftsteller nur ausschalten will, um dessen Frau gegen ihren Willen zu besitzen und sexuell zu nötigen. Sein Herz ist verwirrt, die Ideologie bröckelt. Nach und nach erkennt Wiesler die Verlogenheit und scheußliche Unmenschlichkeit jenes Systems, für das er bis jetzt gläubig Gegner eliminiert hatte. Das Gewissen des Stasi-Mannes erwacht: Er wächst über sich hinaus, kommt aus der sicheren Deckung der ideologischen Ichhaftigkeit, beginnt erstmals selbstlos zu handeln und riskiert aus Mitgefühl Kopf und Kragen ohne Aussicht auf persönlichen Profit. Kurz: Er nimmt sich ein Herz und mischt sich unbemerkt in das Geschehen ein. Wiesler lässt Dreymann geschickt merken, dass Sieland vom Minister bedrängt wird. Nach einer dramatischen Szene, in der der Schriftsteller die Schauspielerin
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