Selber schuld!: Ein Wegweiser aus seelischen Sackgassen (German Edition)
nie geahnte Freiheit beinhaltet.
FALL 37: Der 63-jährige Schuldirektor Mag. Eduard G. kommt in die Praxis, weil er »zu Unrecht« suspendiert worden sei. Jetzt habe er nichts zu tun, und seine Gedanken würden den ganzen Tag um dieses Unrecht kreisen. Ein querulativer Ex-Schüler, so ein Früchtchen, der immer verhaltensauffällig gewesen sei, habe ihn wegen angeblicher sexueller Belästigungen vor 20 Jahren angezeigt. Jetzt werde der Vorfall überprüft, natürlich sei da gar nichts dran, und er werde ohnehin bald wieder arbeiten können. Aber er brauche Unterstützung bei der Aufarbeitung dieses Traumas, denn das sei PR-mäßig eine Katastrophe. Damals sei er in der Nachmittagsbetreuung der Hortkinder tätig gewesen, und natürlich komme man sich da auch näher. Der Psychiater fragt, welche Behauptungen der ehemalige Schüler aufstelle, und Mag. G. übergibt ihm die Sachverhaltsdarstellung, die relativ eindeutige, wenn auch strafrechtlich schwer justiziable Verhaltensweisen offenbaren. Der Psychiater beginnt mit einem Empathietraining und der Frage, welche seiner Gesten der Schüler vielleicht missverstanden haben könnte. Herr Mag. G. kann sich auf diese Fragestellung gut einlassen und entdeckt in sich sexuell-fetischistische Interessen, die ihn selbst erstaunen und die er nach seinen Angaben in der Ehe nie ausgelebt habe. Weiter lehnt er jedoch strikt ab, jemals irgendeinen Schüler auch nur unbewusst sexuell belästigt zu haben. Nach einigen Wochen melden sich zwei weitere Schüler mit ähnlichen Schilderungen. Es stellt sich heraus, dass in Schülerkreisen seine fetischistischen Neigungen lange Zeit kolportiert wurden. Im Laufe von einigen Monaten kommen dann in der Therapie immer mehr Erinnerungsbrocken an sexuell getönte Schülerbegegnungen zutage, die ihm selbst lange nicht bewusst waren. Als erschreckend, aber auch erleichternd erlebt der Lehrer, sich selbst einzugestehen, dass seine damaligen Handlungen im Umgang mit den Schülern manchmal eine sexuell-fetischistische Dimension hatten, die er verdrängt hatte, die aber einige der Schüler sehr wohl wahrgenommen hatten. Letztlich konnte Herr G. die betroffenen Schüler persönlich um Verzeihung bitten.
ANALYSE: Pädophilienahe Fälle neigen in besonderer Weise zum Uminterpretieren und Negieren der Schuld. Denn diese Schuld ist doppelt und dreifach tabuisiert – der Betroffene ist schnell damit überfordert und verdrängt seine Interessen und auch seine Handlungen.
Was wir von Rodja Raskolnikow lernen können
Lehrreich ist an Raskolnikows Schicksal der langsam, schleichend einsetzende Selbstbetrug, der eine Tat, die gegen die eigenen Prinzipien verstößt, intellektuell vorbereitet und so erst möglich macht. Das Herz entschließt sich für die kurzfristige Befriedigung, die der Bauch vorschlägt, und beauftragt den Kopf, den intellektuellen Überbau bereitzustellen. Der manipuliert entweder die eigenen Prinzipien oder die Wahrnehmung der Realität. Das Böse wird gut genannt, die Laster Tugenden. Dieser Schritt ist eine prophylaktische Selbstrechtfertigung. Wären die Juden nicht zu »Parasiten«, die selbständig Denkenden nicht zu »Volksverrätern« und die slawischen Ostvölker nicht zu »Untermenschen« umgedeutet worden, dann hätten die Nationalsozialisten ihre Verbrechen wider die Menschlichkeit vor sich selbst und in ihrer eigenen Öffentlichkeit sehr schwer durchführen und rechtfertigen können.
Die Nazis und ihre Schandtaten sind zwar glücklicherweise Vergangenheit, aber der Mensch verändert sich weniger, als man vielleicht annehmen möchte. Deshalb mag es sinnvoll sein, das ganze Ausmaß dieses massenmörderischen Selbstbetrugs anhand der berühmten Posner Rede des SS-Reichsführers und Reichsinnenministers Heinrich Himmler vom 4. Oktober 1943 vor SS-Männern zu analysieren: »Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. – ›Das jüdische Volk wird ausgerottet‹, sagt ein jeder Parteigenosse, ›ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.‹ … Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammenliegen, wenn 500 da liegen oder wenn 1000 da liegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt
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