Selbs Betrug
Nein, ich nahm ihm nichts übel. Aber um den Gefallen, um den ich ihn hatte bitten wollen, bat ich lieber Brigitte, und ich bat sie auch, ihm nichts davon zu sagen.
20
Als ob
Die erste Nacht im Gefängnis war schlimm gewesen, die zweite wurde schlimmer, und zu allem übrigen plagte mich die Angst, jetzt werde es immer so weitergehen, eine Nacht schlimmer als die andere.
Im Traum mußte ich die erste Seite einer Zeitung gestalten. Jedesmal wenn ich meinte, ich hätte die mir übergebenen Bilder und Artikel befriedigend angeordnet, fand sich doch noch etwas. Jedesmal sah ich die Unlösbarkeit der Aufgabe; die Seite war voll, und für zusätzliches Material war einfach kein Platz mehr. Aber jedesmal fing ich wieder an, schob alles hin und her, meinte, ich hätte es geschafft, und mußte wieder feststellen, daß ich ein Bild oder einen Artikel übersehen hatte. Ich war unruhig und zugleich von verbissener Beharrlichkeit. Dann realisierte ich, daß ich mir das Material noch gar nicht richtig angeschaut hatte, und holte es nach. Die Artikel trugen alle dieselbe blöde Überschrift »Selbst ist der Selb«, und die Bilder zeigten mich mit immer demselben täppischen Grinsen und denselben aufgerissenen Augen. Aber auch davon wachte ich nicht auf. Ich machte weiter, schob Bilder und Artikel hin und her und scheiterte, bis mich die Sonne weckte.
»Eine Vernehmung am Sonntag – wir wollten Sie gerne noch mal sprechen, ehe Sie dem Richter vorgeführt werden.« Franz trug wieder sein freundliches Lächeln, neben ihm saß unglücklich Nägelsbach, Bleckmeier schaute verdrossen, und Rawitz war noch dicker geworden und hielt seinen Bauch mit den gefalteten Händen zusammen. »Durch ein dummes Mißgeschick wurde Ihre Festnahme nicht unter Freitag, sondern unter Samstag verbucht. Als Folge davon haben wir den Richter nicht schon gestern eingeschaltet, sondern erst für heute vorgesehen. Wir würden begrüßen, wenn Sie sich als am Samstag festgenommen verstehen könnten.«
Hatte Nägelsbach mich falsch verbucht? Schaute er deswegen so unglücklich? Ich wollte ihm keinen Ärger machen, und mir sollte es für die Anhörung durch den Richter auf einen Tag mehr oder weniger auch nicht ankommen. Aber was war von der staatsanwaltschaftlichen Philosophie des »Als ob« zu halten?
»Ich werde dem Richter vorgeführt, als ob ich gestern festgenommen worden wäre. Mir wird Strafvereitelung vorgeworfen, als ob eine Strafe wegen einer Tat drohte, die Frau Salger in Käfertal begangen hat. Ein Anschlag bei Viernheim wird behandelt, als ob er in Käfertal passiert wäre. Ist das nicht ein bißchen viel ›Als ob‹?«
Rawitz löste die Hände und wandte sich zu Franz. »Es hat keinen Zweck. Lassen Sie ihn vor dem Richter sagen, was er will. Wenn der Richter ihn raussetzt, setzen wir ihn eben wieder rein. Und keine Sorge, den Viernheim-Käfertal-Quatsch treiben wir ihm bis zur Verhandlung schon noch aus.«
»Sie haben doch einen festgenommen und werden ihm den Prozeß machen. Wollen Sie ihn wegen einer Tat verurteilen, die er gar nicht begangen hat? Wollen Sie …«
»Die Tat, die Tat«, Franz unterbrach mich ungeduldig, »was für eine sonderbare Vorstellung von der Tat Sie haben. Die Tat entsteht erst durch die Anklage. Erst die Anklage greift aus der unendlichen, unüberschaubaren Flut von Ereignissen, Handlungen und Wirkungen einige heraus und setzt sie zu dem zusammen, was wir die Tat nennen. Hier schießt einer, dort fällt einer tot um, gleichzeitig zwitschern Vögel, fahren Autos, backt der Bäcker Brötchen und zünden Sie sich eine Zigarette an. Die Anklage weiß, was zählt, macht aus dem Schuß und dem Toten den Mord und vernachlässigt alles übrige.«
»Hier schießt einer, sagen Sie, und dort fällt einer um – der Anschlag war aber gerade nicht in Käfertal, sondern bei Viernheim. Käfertal ist weder hier noch dort.«
»So«, höhnte Rawitz, »Käfertal ist weder hier noch dort? Wo ist Käfertal denn?«
Bleckmeier schaltete sich ein. »Der Ort ist was anderes, als was an dem Ort passiert. Bestraft wird nur, was passiert, nicht der Ort.« Er schaute unsicher in die Runde und ergänzte, als keine Reaktion kam, »sozusagen«.
»Der Ort ist weder hier noch dort und bestraft wird er nicht. Wie lange muß ich diesen Quatsch noch anhören? Wir haben Sonntag, ich will nach Hause.«
»Quatsch?« Das mochte Bleckmeier sich denn doch nicht sagen lassen.
»Meine Herren Kollegen«, beruhigte Franz, »lassen wir die philosophischen
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