Selbs Betrug
blieb ein Paar unter meinem Fenster stehen.
Auf einmal überkam mich Sehnsucht nach dem hellen, warmen, bunten Leben draußen, als sei ich seit Jahren und auf Jahre in der Zelle eingesperrt. Auf Jahre in der Zelle – war’s das, was mir bevorstand? Ich dachte über den Hochmut nach, der vor dem Fall kommt, und über den Fall nach dem Hochmut. Ich dachte an die Erfolge, die ich in meinem Leben gewünscht, und an die Mißerfolge, die ich gehabt hatte. Ich dachte art Korten. Erlebte ich den Sieg des Prinzips der ausgleichenden Ungerechtigkeit?
Am Morgen versuchte ich ein paar Kniebeugen und Liegestützen. Man kann lesen, das helfe, langjährige Einzelhaft zu überstehen. Mir taten nur die Glieder weh.
19
Ein schwebendes Verfahren
Um halb zehn wurde ich zur Vernehmung geführt. Ich hatte mit Bleckmeier und Rawitz gerechnet. Statt dessen saß ich einem jungen Mann mit gescheitem Gesicht und gepflegten Händen gegenüber, der sich als Staatsanwalt Dr. Franz von der Bundesanwaltschaft vorstellte. Mit deutlicher, angenehmer Stimme las er mir vor, was mir zur Last gelegt wurde. Von Unterstützung einer terroristischen Vereinigung bis Strafvereitelung war alles dabei. Er fragte mich, ob ich mich nicht des Beistands eines selbstgewählten Rechtsanwalts versichern wolle. »Ich weiß, Sie sind selbst Jurist, aber ich bin’s auch und lasse sogar von der eigenen Kauf- oder Mietstreitigkeit die Finger. Niemals in eigener Sache tätig werden – das ist ein guter alter Juristengrundsatz. Zudem wird es bei Ihnen vor allem um das Strafmaß gehen, und dabei sind Überblick und Erfahrung nötig, die Sie nicht haben.« Er lächelte freundlich.
»Frau Salger, sagten Sie – und was, sagten Sie, ist die Tat, bei der ich die Bestrafung vereitelt haben soll?«
»Ich sagte noch gar nichts. Die Tat ist ein Anschlag auf amerikanische militärische Einrichtungen, geschehen am 6. Januar in Käfertal.«
»Käfertal?«
Dr. Franz nickte. »Aber wir wollen lieber über Sie sprechen. Sie haben Frau Salger in Amorbach geholt und in Frankreich über die grüne Grenze gebracht. Machen Sie sich wegen der Verstöße gegen das Paßgesetz keine Sorgen, Herr Selb, die lassen wir einfach unter den Tisch fallen. Erzählen Sie, wie es hinter der grünen Grenze weiterging.« Nach wie vor lächelte er mich freundlich an.
Nachdem ich das Buch der Reise mit Leo bei der Rückkehr nach Mannheim zugeklappt und weggelegt hatte, hatte ich nicht mehr daran gerührt. Jetzt schlug es sich von selbst auf. Für einen kurzen Augenblick vergaß ich, wo ich war, sah nicht den Resopaltisch, nicht die schmutzigen gelben Wände und nicht das Gitter im Fenster. Ich ließ mich von einer Welle der Erinnerungen an Leos Gesicht, den Mond über dem Murtener See und die Luft in den Alpen tragen. Die Welle setzte mich ab, und ich saß Dr. Franz gegenüber. Sein Lächeln war zur Grimasse erstarrt. Nein, für ihn blieb das Buch der Reise mit Leo zu. Und wie war das mit der Strafvereitelung? Setzt Strafvereitelung nicht eine Tat voraus, die tatsächlich begangen wurde und bestraft werden kann? Ohne Anschlag am 6. Januar in Käfertal keine Strafvereitelung? Ohne Anschlag auch keine terroristische Vereinigung, die ich hätte unterstützt haben können? Was, wenn es statt des Anschlags in Käfertal einen im Lampertheimer Forst gegeben hatte?
Als ich ihm die letzte Frage stellte, schaute Dr. Franz perplex. »Statt des einen Anschlags ein anderer? Ich glaube, ich verstehe nicht recht.«
Ich stand auf. »Ich möchte zurück in meine Zelle.«
»Sie verweigern die Aussage?«
»Ich weiß noch nicht, ob ich verweigere oder nicht verweigere. Ich möchte erst einmal nachdenken.« Er setzte zu einer Erwiderung an, und ich wußte schon, was er sagen würde. »Ja, ich verweigere die Aussage.«
Er zuckte mit den Schultern, drückte auf den Klingelknopf und winkte mich mit dem eintretenden Beamten hinaus, ohne etwas zu sagen.
In der Zelle setzte ich mich auf die Pritsche, rauchte und war unfähig, geordnet nachzudenken. Ich versuchte, mich an den Namen des Professors zu erinnern, bei dem ich als Student Strafrecht gehört hatte, als sei dieser Name von der größten Wichtigkeit. Dann hatte ich Bilder aus meiner Zeit als Staatsanwalt im Kopf, Vernehmungen, Verhandlungen, Exekutionen, bei denen ich zugegen war. In der Flut der Bilder war keines, das mich über die Merkmale der Strafvereitelung oder sonst über die strafrechtlichen Probleme meiner Lage belehrt hätte.
Als der Beamte wiederkam,
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